Allegorisches Märchen

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sago Avatar

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„Der Mann der den Regen träumt“ ist das zweite Buch des britischen Autors Ali Shaw. Es vermochte mich wesentlich mehr zu überzeugen als das Erstlingswerk „Das Mädchen mit den gläsernen Füßen“, das mir zunächst wegen des wunderschönen silbernen Buchschnitts aufgefallen war. Aufgrund der hervorragenden Optik hatte ich damals wohl zu viel erwartet und das seltsam ziellose Ende hatte mich enttäuscht. Der „Regenträumer“ hat mich eher gefesselt. Shaws Geschichten sind schwer einem Genre zuzuordnen, oft werden sie der Fantasy zugeschrieben, dürften aber meiner Meinung nach viele Liebhaber klassischer Fantasy-Literatur komplett enttäuschen. Noch verblüffender finde ich, dass seine Bücher in den Buchhandlungen oft auf den Tischen mit Teenager-Büchern zu finden sind. Ich denke, dass sie eher unter Erwachsenen Liebhaber finden. Die Stories spielen in einem im Großen und Ganzen realistischen Setting, das durch verschiedene, eher märchenhaft-allegorische Elemente ergänzt wird, deren Auftreten nicht hinterfragt wird. Im „Regenträumer“ ist das vor allem der namensgebende Protagonist. Besagter Finn ist im Grunde ein Mensch gewordenes Wetterphänomen und kann sich in eine Regenwolke auflösen, aber auch unwillkürlich Blitze schleudern. Da er seine Mutter dadurch schon einmal verletzt hat, wohnt er seitdem einsam auf einem Berg. Er ist ebenso ein Außenseiter wie die weibliche Protagonistin Elsa, die nach dem Tod ihres Vaters und einer gescheiterten Beziehung aus New York in den kleinen Ort Thunderstown zieht. Dort begegnet sie Finn, und die beiden verlieben sich. Shaws Figuren sind keine stromlinienförmigen Abziehbilder, sondern versehrte Menschen mit Narben auf der Seele, die nicht jedem liegen werden. Finn und Elsa allerdings waren mir wesentlich sympathischer als das Liebespaar aus dem Erstlingswerk. Hervorzuheben ist Shaws tiefgründiger, an Poesie erinnernder Sprachstil, der sich durch detaillverliebte Metaphorik auszeichnet. Vor allem bei der Beschreibung von Trauer entfaltete sich für mich eine enorme Sogwirkung. Ein Beispiel: “Nach der Beerdigung hatte sie sich gefühlt, wie eine von Haarrissen durchzogene Vase, die sich verzweifelt bemühte, das Wasser in ihrem Inneren zu halten. Dann, eines Tages, nachdem ein ganzer Monat vergangen war, hatte sie dem Druck einfach nicht mehr standhalten können. Ein einziger weiterer Riss hatte sie in tausend Scherben zerspringen lassen.“
Positiv überraschend war ich vom diesmal wesentlich versöhnlicher gestalteten Ende des Buches. Da die Geschichte in vielem dem Muster des Erstlingswerkes folgt, hatte ich hier Schlimmeres befürchtet. Zwar brauche ich nicht immer grundsätzlich ein Happy-end, dennoch sollte der Leser am Ende nicht mit dem Gefühl zurückbleiben „Und was sollte das alles?“ So erging ging es mir leider beim „Mädchen mit dem gläsernen Füßen“, jedoch nicht beim „Regenträumer“. Einziger echter Kritikpunkt an den Autor: Das Ereignis gegen Ende des Buches , das eine äußert kritische Entwicklung auslöst, überzeugt nicht. Wie den Personen in manchen klischeehaften Horrorfilmen möchte man hier Finn und Elsa zurufen: „Nein, tut das nicht, geht nicht zusammen ins Dorf, es ist doch klar, was dort passieren wird und auch durch wen.“ Es bleibt auch unverständlich, warum Daniel, der fast als dritte Hauptperson des Romans gelten kann, hier keine Warnung ausspricht. Dafür leider einen Punkt Abzug für diesen ansonsten lesenswerten ungewöhnlichen Roman. Vom Verlag hätte ich mir wieder so einen wunderschönen silbernen Buchschnitt wie beim Vorläufer des Romans gewünscht oder eine ähnliche originelle Idee. Vielleicht lässt sich durch solche Gestaltungen das Verschwinden echter Bücher noch etwas aufhalten! Vielen Dank an das Team von Vorablesen für diesen wunderbaren Gewinn!