Eine klare Linie fehlt

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ismaela Avatar

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Den durchweg guten Rezensionen der Mit-LeserInnen kann ich mich nicht anschließen.

Es stimmt, das Cover ist wunderschön gestaltet, auch das Buch wirkt sehr qualitätvoll, aber wenn dafür die Geschichte nicht stimmt, kann es griffiges Papier auch nicht mehr rausreissen.

In "Der Mann, der nie Glück hatte" geht es um Martin, der, vom Pech verfolgt, in einer psychiatrischen Klinik versucht, sein bisheriges Leben aufzuarbeiten. Dabei wechseln die einzelnen Kapitel von Gegenwart und Vergangenheit und wieder zurück, sodass sich die einzelnen Stationen von Martins Leben zu einem Ganzen fügen, und der Leser versteht, wie es so weit kommen konnte. Vor allem die Kapitel, die in der Vergangenheit spielen, werden mit teils surrealen und fantastischen Elementen angereichert, während die Gegenwart - zumindest bis zum Schluss - mehr eine sachliche Schilderung ist. Einen größeren Raum im Roman nimmt der Bruder des Protagonisten ein, der allerdings nur in der Vorstellungskraft von Martin vorkommt, und um den sich ein Geheimnis rankt, das aber letztendlich aufgeklärt wird.

Mein erster Kritikpunkt an diesem Roman ist das Unglücksthema. Wenn man mal von dem "Mord" an seinem Vater absieht, hat Martin ein ganz normales, ja eigentlich schönes Leben, in dem Missgeschicke passieren, wie sie jedem von uns irgendwann über den Weg laufen, beim Einen häufiger, beim Anderen weniger häufig - Verletzungen im Kindesalter, eine gescheiterte "Beziehung" unter Jugendlichen, eine Ehe, die nicht funktioniert. Sieht so jemand aus, der "nie Glück hat"? Ich finde nicht. Zumindest ist dieses Thema nicht konsequent umgesetzt bzw. weitergeführt worden. Auch das große Bruderthema: Martin hat das deutliche Gefühl, dass er einen Bruder hat, und irgendwann "besucht" ihn dieser auch regelmäßig. Reine Einbildungskraft? Eine Krankheit? Ein Traum? Überhaupt die konsequente Umsetzung: die ganze Geschichte wirkt nicht ausgereift, immer wieder werden Themen und/oder Aktionen angeschnitten, die dann entweder blass und stiefmütterlich im weiteren Verlauf in der Ecke stehen (z. B. der Aufenthalt in der Klinik, mit seinen Therapiemaßnahmen, der irgendwie völlig sinnlose Aktienkaufplan), oder ziemlich realitätsfern ausgeführt und auch beschrieben werden (v. a. die Recherche und der "Stasiskandal" um seinen Bruder), vieles ist schlicht verwirrend bzw. für mich nur schwer nachzuvollziehen (z. B. warnt der Bruder Martin ausdrücklich davor, in der Vergangenheit zu wühlen, als er es dann aber doch tut, wird er vom Bruder "belohnt"; als er den Vater auf dessen Wunsch hin erschießt, ist das für ihn ganz normal etc.) manches nervt (andauernd legen alle mögliche Leute anderen Leuten die Hand auf die Schulter).
Dass in vielen Kapiteln traumhafte Sequenzen vorkommen fand ich sehr erfrischend, auch sind sie nicht so übermächtig, dass das Ganze ins Unglaubwürdige oder kitschige abdriftet; auch der Schluss mit leichtem Fantasyeinschlag war gelungen.

Nur leider war der Schreibstil und vor allem die Dialoge sehr hölzern und sperrig. Man konnte den Text gut lesen, aber die Formulierungen und Wendungen zeigen einfach, dass es einen Unterschied macht, ob man ein erfahrenes und professionelles Lektorat seines Buche(projekt)s in Anspruch nimmt, oder als Self-Publisher auf eine günstigere Variante zurückgreift. Ich habe nichts gegen Self-Publishing, ganz im Gegenteil, aber manchmal gelingt es eben nicht, einen Leser ans Buch zu fesseln, ganz einfach deshalb, weil die Geschichte an sich (sehr) gut ist, das Handwerk aber (noch) nicht ausreicht...