Der Mensch ist böse...?

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singstar72 Avatar

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Die erste Frage, die sich mir bei diesem Buch stellt, ist die, ob ich überhaupt zu der angestrebten Zielgruppe gehöre. Ich vermute, eher nein. Denn das Buch ist ganz auf einen bestimmten Personenkreis zugeschnitten – auf die „Follower“ und Fans eines YouTubers, der sich mit ungeklärten Verbrechen und rätselhaften Fällen beschäftigt. Dieser heißt mit Pseudonym „Jarow“, und war mir bislang nicht bekannt. Meine persönliche Beschäftigung mit dem Genre „True Crime“ beschränkt sich bisher auf die Sendung „Aktenzeichen XY“, und Ferdinand von Schirach. Das entspricht mir auch wesentlich mehr.

Ich kann mir nicht helfen, auf einer rein literarischen Ebene hat mich das Buch nicht sonderlich angesprochen, und ich habe es als „unseriös“ empfunden. Da wäre zum einen die durchweg verwendete Umgangssprache. Der Autor spricht mit seinen Lesern wie mit Freunden an der Theke, so mein Empfinden. Und das erwarte ich bei einem Sachbuch definitiv nicht! Ausdrücke wie „Horror-Hotel“ und anderes erwarte ich in der Bild-Zeitung…! Zweitens gehören in ein Sachbuch über ungelöste Fälle Spekulationen, wie sich Personen wohl gefühlt haben, einfach nicht hinein. „Sie konnte an diesem Morgen noch nicht ahnen, dass...“ ist eine solche Formulierung. Das ist effektheischend und unnötig. Drittens haben mich die Illustrationen gestört, wie Scherenschnitte von Menschen in Blutlachen, Tätern mit Revolvern etc. Auch das empfinde ich als unseriös.

Ich habe mir die Mühe gemacht, und einen der geschilderten Fälle, nämlich den des „Horror-Hotels“ von H. H. Holmes, mit einer anderen Darstellung verglichen. Mir ist vor einiger Zeit auf einem Flohmarkt ein Taschenbuch von Mark Benecke in die Hände gefallen, dem bekanntesten deutschen Rechtsmediziner. „Aus der Dunkelkammer des Bösen“. Gut, dieser Titel ist nicht viel besser. Aber die Darstellung des Falles von Holmes könnte unterschiedlicher nicht sein! Um Längen sachlicher, psychologisch fundiert, eingeordnet in eine Typologie der sexuellen Straftäter. Schon allein dies unterbleibt bei Jarow! Bei Jarow ist Holmes lediglich ein Serienkiller. Bei Benecke hat er abweichende sexuelle Fantasien, und ist somit ein Verwandter der Vergewaltiger und anderer Sexualstraftäter. Ehrlich, mir hat der Fall bei Benecke sehr viel besser gefallen. Wenn man das überhaupt so sagen kann.

Zweitens gehen die geschilderten Fälle meiner Meinung nach am Titel des Buches vorbei. Das Buch ist betitelt mit der Bosheit des Menschen. Doch worum geht es eigentlich? In den meisten Fällen einfach um ungelöste Rätsel. Da ist von Bosheit keine Spur. Ein verschwundener Teenager – hier ergeht sich der Autor eigentlich eher in Spekulationen um die Macht der Medien. Ein vor Jahrzehnten aufgefundenes Geisterschiff – auch hier kein blutrünstiger Täter, kein Sadist. Ein geheimnisvoller Stalker versucht, den Verkauf eines Hauses zu unterbinden… auch das würde ich nicht unter „Bosheit“ abspeichern, eher unter einem immer weiter verbreiteten neuzeitlichen Phänomen. Eben dem Stalking. Und so weiter. Vielfach ist einfach nur der Hergang eines rätselhaften Ereignisses ungeklärt. Der Titel des Buches lässt jedoch auf reißerische Art anderes vermuten. Auch das unseriös.

Die Zusammenstellung der Fälle hat mich ebenfalls gewundert. Sie sind nicht einmal alle aus der Neuzeit! Einer sogar aus dem vorletzten (!) Jahrhundert, nämlich der des Serienkillers Holmes. Zwei bis drei andere Fälle sind Jahrzehnte alt. Und sie stammen keinesfalls alle aus Deutschland, sondern aus der ganzen Welt. Nun kenne ich natürlich die Aufmachung des YouTube-Kanals nicht. Mag sein, dass der Autor einfach seinem bewährten Muster gefolgt ist. Nun, ich hätte bei einem deutschen Sachbuch deutsche Fälle aus der deutschen Vergangenheit erwartet.

Ich lande dennoch bei einer halbwegs wohlwollenden mittleren Bewertung. Warum? Das Buch ließ sich, zugegeben, annähernd flüssig weglesen. Es hat auch eine recht gute Bandbreite der dargestellten Verbrechen abgedeckt: Vermisstenfälle, Entführung, Stalking, Verschleierungstat, Serienkiller, Cyberkriminalität, und mehr. Drittens hat mir gefallen, dass ein Profiler hinzugezogen wurde. Er ist in einem Vorwort und in mehreren Interviews zwischen den Fällen zu hören. Und abschließend hat der Autor durchaus eine erzieherische Funktion wahrgenommen. Mehrfach weist er seine Leser auf Wahrscheinlichkeiten hin, sowie auf die Verantwortung von Öffentlichkeit und Medien.

Insgesamt ergibt das wohl eine unentschiedene Gemengelage… ich bleibe bei meinen drei Sternen.