Gut lesbar und Tiefgang

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mike nelson Avatar

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Gut lesbar und Tiefgang. Melanie Levensohn ist es mit ihrem aktuellen Roman "Der Morgen nach dem Regen" gelungen, dass ich jede freie Minute genutzt habe, nach dem Buch zu greifen. Und das liegt nicht daran, dass es einen irrsinnigen Spannungsbogen gibt, es zeichnen sich vielmehr von Beginn an viele Konfliktlinien ab, nach deren Auflösung man sich als Leser:in sehnt. Und so ist es ein Leichtes, den knapp über vierhundert Seiten zu folgen. Mutter Johanna ist als UN-Vertreterin in den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt unterwegs, liebt ihren Job, hat aber permanent ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Tochter, die sie allzuhäufig mit Ehemann Ralph in New York allein lässt. Als die eigene Mutter stibt zwei Jahrzehnte später verstirbt - Johanna ist inzwischen getrennt, erbt sie das Haus in St. Goar und beschließt dorthin zu ziehen. Für Tochter Elsa, inzwischen erfolgreiche Anwältin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, spielt der Job eine ähnlich große Rolle, bis zu dem Tag, an dem sie einen Burnout erleidet; Elsa muss zur Ruhe kommen, erinnert sich an ihre wohlbehüteten Kindertage bei ihrer Großmutter Toni in St. Goar und beschließt, Den Haag und auch ihren Freund zu verlassen, um sich im alten Haus der Großmutter zu erholen. Das Verhältnis zwischen Johanna und Elsa hat sich allerdings über die Jahrzehnte derart abgekühlt, dass ein konfliktfreies Miteinander nicht möglich scheint und beide nun vor der großen Herausforderung stehen, ihre Vergangenheit zu bewältigen. Die Gegenwartsebene ist in 2023 angesiedelt, die zweite Zeitebene in 2003; die Autorin hat sich für zwei Erzählperspektiven entschieden, die von Johanna und Elsa, was die Konfliktlinien zwischen Mutter und Tochter noch einmal betont. Schon der Titel des Buches verrät, dass die beiden es schaffen, sich wieder anzunähern, allerdings ist es ein langer, steiniger Weg. Punktabzug gibt es für den etwas kitschigen Kunstgriff, die verstorbene Großmutter Toni für Johanna quasi aus dem 'off' als Geist erscheinen und Ratschläge geben zu lassen. Ansonsten eine runde Sache, die bei all den auch berichteten Grausamkeiten aus den Krisengebieten, sogar einen kleinen Romantikfaktor im Beigepäck hat.