wenn der Klappentext nicht wäre...

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angie99 Avatar

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Die Periode bleibt aus. Obwohl Ea kein Kind wollte, fängt sie an, über Mutterschaft nachzudenken. „War das, was sie fühlte, nicht Hoffnung? War es nicht eine kindliche Erwartung, die sie nachts wachhielt? So musste es gewesen sein, denn als sie am siebten Morgen mit der altbekannten Wärme zwischen den Beinen aufwachte, wurde ihr das Herz schwer. “ (S. 262) Und so fängt Ea an, über ihre eigene Herkunftsfamilie nachzudenken, obwohl ihre Eltern bereits verstorben und ihre Geschwister im fernen Europa wohnen. Um mit ihrer Mutter wieder in Kontakt zu treten, sucht sie die Hellseherin Beatrice auf. Doch leider schiebt sich bei der Séance der Vater dazwischen…
Das ist die Ausgangslage zu diesem Roman, was die Leserschaft jedoch erst gegen Ende der Lektüre zu fassen bekommt.
Am Anfang dieses Buches steht erst mal ein Personenverzeichnis (auweia, das wird kompliziert, denke ich mir und meine Leselust sinkt schon mal ein Stückchen ab), dann folgt als Prolog die viel zu ausufernde Beschreibung einer Person („Charlotte, die Mutter“) in einer surrealen Welt (wo sind wir hier eigentlich? Ist das ein Traum? Ich verstehe nur Bahnhof und meine Leselust sinkt nochmals markant). Darauf beginnt die eigentliche Erzählung mit einer Beatrice (wohin sie gehört, steht nicht im Personenverzeichnis, die Leselust sinkt so sehr, wie die Verwirrung steigt), um dann zu einer Sidsel („die Mittlere“) zu wechseln, die feststellt, dass sie Würmer im Darm hat – und *bäm* meine Leslust ist auf genau Null gelandet und ich lege das Buch zur Seite. Wenn ich mich nicht zu einer Leserunde verpflichtet hätte, wäre hier Schluss gewesen.
Irgendwann raffe ich mich zum Weiterlesen auf und bin im weiteren Verlauf der Geschichte sehr positiv überrascht von so ungewöhnlichen wie brillanten Metaphern und Umschreibungen wie z.B.: „Auf dem Nachttisch lassen die Blumen, die sie gestern gepflückt hat, schon ihre zartlila, seidenweichen Mäuler hängen, vier müde Wiederkäuer, die ihre Köpfe auf den Rand des Marmeladenglases legen.“ (S. 62)
Jedes Kapitel wird aus einer anderen Sicht erzählt. Im Mittelpunkt steht das alltägliche Erleben der drei Geschwister Sidsel, Ea und Niels, doch auch Beatrice, die Hellseherin, kommt ausführlich zu Wort und sogar die Stimmen von den verstorbenen Eltern mischen sich unter das Panoptikum. Alles Leute mit außergewöhnlichen Berufen und Lebensstilen (teils auch arg überzeichnet), die sich jedoch mit nur allzu bekannten Problemen herumschlagen. Besonders das Thema Mutterschaft zieht sich wie ein roter Faden durch all die Geschichten, wobei das Muttersein größtenteils als etwas Belastendes angesehen wird.
Tatsächlich zeichnet die Jungautorin Caroline Albertine Minor ein eher trübes Bild einer Gesellschaft, die zwar Wohlstand bietet, der aber die Zwischenmenschlichkeit abhandengekommen ist.
Und so stehen auch die Kapitel in diesem ohne größere Verbindung nebeneinander, Interaktionen zwischen den Protagonisten bleiben bis auf wenige Ausnahmen aus.
Damit zeichnet der Klappentext leider ein völlig falsches Bild dieses Romans. Dort heißt es: „Doch dann müssen die Geschwister auf einmal Stellung zueinander und ihrer Vergangenheit beziehen.“ Das hört sich nach einer gemeinsamen Sinnsuche an, nach einem unvermittelten Treffen oder irgendeiner anderen Herausforderung, die sie zusammen bewältigen müssen. Darauf zu warten, bleibt jedoch bis zum Ende des Buches ergebnislos. „Ein beglückendes und zärtliches Buch…“ steht im Klappentext außerdem - und auch das ist eher irreführend, denn viele angesprochenen Themen (Abhängigkeiten, Einsamkeit, Unsicherheit, fehlender Mut, fehlendes Durchsetzungsvermögen etc.) sind alles andere als beglückend. Und Minor beschreibt sie mit einer solch kühlen Distanz, dass sie auch alles andere als zärtlich auf die Leserschaft wirken.
Es ist höchst schade, dass hier vom Verlag solche falschen Erwartungen aufgebaut werden.
Denn dieses Buch ist – trotz seiner Schwächen - lesenswert.
Minors Sprachstil ist brillant (und die Übersetzerin Ursel Allenstein hat eine hervorragende Arbeit abgeliefert!) Minor versteht es, überraschend und lebendig ihre Figuren („Beatrices Silhouette zeichnet sich schmal vor dem matten Licht ab, das durch die Fenster ins Wohnzimmer fließt. Ein Kälteschauer lässt sie frösteln, und aus einem Reflex heraus fährt sie blitzschnell mit den Händen über ihren Bauch und ihre Hüften, die Arme und Schultern; wie ein Mensch, der sich vergewissern will, dass er immer noch da ist und unversehrt.“ (S. 125) ) oder auch nur kleine Momente („Ea leert ihre Wasserflasche und blickt versuchsweise zum Horizont, doch ihr Blick springt zurück, als wäre er mit straffen Gummibändern in den Augenhöhlen befestigt.“ (S. 175) ) zu zeichnen.
Nach dem anfänglichen Nullpunkt steigt mein Lesegenuss fast senkrecht an und hängt bis zum Ende nur wenige Male minimal durch.
Und zwar dann, wenn Minor schon wieder eine neue Figur einführt, um einen weiteren Blickwinkel, eine weitere Leidensgeschichte oder eine weitere Lebensphilosophie in das Buch reinzustopfen. Das liest sich dann pseudospannend: man ahnt, dass die Person etwas zu sagen hätte, doch sie tut es nur abrissweise und oberflächlich. Hier wäre weniger definitiv mehr gewesen.

Fazit: Minor schreibt unheimlich sprachgewandt, aber auch deutlich überladen über eine sich entfremdende Gesellschaft, die ihren Zusammenhang genauso suchen muss wie die Leserschaft die Verbindungen zwischen den einzelnen Erzählsträngen.