Ein Jahreshighlight

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fraedherike Avatar

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"Der Gedanke, dass ich ihn nicht sehen werde, erfüllt mich mit dem schmerzlich scharfen Verlangen, ihn zu berühren, unter Wasser seine Hand zu streifen. Es ist ein Hunger. Eine Sucht. Er ist wie eine Sirene." (S. 66)

[TW: Vergewaltigung, körperlicher Missbrauch] Die Erinnerungen an die vergangene Nacht brennen wie ein Phantomschmerz an Elle, ihre Lippen pulsieren, sehnsuchtsvoll und drängend; ihr Herz schlägt, wenn sie an seine Hände denkt, seine Berührungen. Jonas. Seit mehr als dreißig Jahren hatte sie ihren Jugendfreund nicht mehr gesehen, den Jungen, mit dem sie als kleines Mädchen in Cape Cod durch die Wälder rannte und im See schwamm, gemeinsam das Segelboot-Fahren lernte - bis... Es sind Erinnerungen, die sie lange verdrängt hatte und sich nun Bahn brechen, an fremde Hände, sinkende Hände, liebende Hände. Lange hatte sie sich auf ihre Rückkehr nach Cape Cod gefreut, darauf, den Sommer gemeinsamen mit ihrem Ehemann und den Kindern im Papierpalast, dem Ferienhaus ihrer Eltern, zu verbringen. Da konnte sie noch nicht ahnen, dass sie ihn nach all den Jahren wiedersehen würde. Dass sie diese eine unvergessliche Nacht verbringen würden, während im Nebenzimmer ihre Familien feiern, reden, lachen. Ihre Gefühle übermannen sie, denn es ist immer Jonas, an den sie denkt, immer Jonas gewesen, den sie liebte - und das hat ihre auch diese Nacht bewiesen. Sie steht am Scheideweg: Bleibt sie bei ihrem Ehemann oder verlässt sie ihn, um mit Jonas das Glück zu finden?

"Was unter der Wasseroberfläche liegt, bleibt unseren Blicken verborgen." (S. 46)

Bereits nach wenigen Seiten war ich mir sicher: Das hier wird ein Jahreshighlight, ohne Frage. Und dieser erste Eindruck sollte sich bis zum Ende halten. Mitreißend und unglaublich intensiv erzählt Miranda Cowley Heller in ihrem Debütroman "Der Papierpalast" (OT: The Paper Palace, aus dem Englischen von Susanne Höbel) die Geschichte von Elle Bishop. Nach außen hin scheint sie glücklich zu sein: Seit mehr als zwanzig Jahren ist sie glücklich mit ihrem Ehemann Peter verheiratet, sie haben drei gemeinsame Kinder und sichere Jobs. Doch in der Vergangenheit sind Dinge passiert, die sie bis heute prägen, die Spuren hinterlassen haben - und die ihr zudem eine gemeinsame Zukunft mit Jonas, ihrem Jugendfreund verwehrten. Noch nie schien ihr Leben "einfach" zu sein: Schon als Säugling musste sie nach einer Notoperation um ihr Leben kämpfen, wuchs in einer dysfunktionalen Familie mit wechselnden Vätern und tyrannisierenden Stiefbrüdern auf, einzig ihre Schwester war eine bleibende Konstante. Und Jonas. Jeden Sommer, wenn sie wieder in den Papierpalast fuhren, tobte sie mit dem schüchternen Jungen herum und sie schworen sich ewige Freundschaft. Er war es, dem sie das anvertraute, was ihr angetan wurde und ihn so für immer an sich band - bis sie ihn verlor. Sie zog nach London, lernte Peter kennen und er gab ihr Geborgenheit und Liebe, kittete die Risse, ohne zu wissen, wer oder was sie verursacht hatten. Umso schwieriger ist es nun für Elle, sich zwischen einer Zukunft mit Peter, der ihr jahrelang Sicherheit und Vertrauen entgegenbrachte, oder mit Jonas zu entscheiden.

Was nun vielleicht wie eine abgedroschene Liebesgeschichte klingt, ist in Wahrheit so viel mehr als das: Cowley Heller erzäghlt nach und nach, wie sich für Elle "der Tag danach" gestaltet, das Tohuwabohu ihrer Gefühle, das Gedankenkarussell, das "was wäre, wenn...", jetzt und damals. Elle sind eine unnachahmliche emotionale Stärke und Strahlkraft zu eigen, ein für sie einnehmendes Wesen mit Ecken und Kanten, ungeahnten Tiefen. In all ihren Entscheidungen wirkt sie aber niemals berechnend, viel eher auf der Suche nach Ruhe, sich nicht mehr verstellen zu müssen. Immer wieder gewährt die Autorin einen Blick in die Zukunft, sodass sich das Gesamtbild der gegenwärtigen Beziehungsgeflechte allmählich erschließt und mit Fakten und prägenden Erinnerungen unterfüttert wird: Elles Kindheit, das Schicksal ihrer Schwester, das Kennenlernen mit Peter. Und: inzestuöse Übergriffe, Fehlgeburten, Gewalt und Nötigung. Bildgewaltig, hart, fühlbar. Es könnte auch das Transkript eines Netflix-Serie sein, so durchdacht und genial getimet bauen die einzelnen Szenen aufeinander auf, so lebendig ist ein jeder Charakter gezeichnet, Anspannung bis zur letzten Seite. Und das kommt nicht von Ungefähr, denn Miranda Cowley Heller war Head of Drama Series bei HBO und entwickelte zahlreiche Serien wie Die Sopranos oder Six Feet Under.

Um nicht noch weiter abzuschweifen: Das Buch hat mit von der ersten Seite an vollends für sich vereinnahmt und ich konnte es bis zuletzt nicht - oder nur ungern - zur Seite legen. Es ist kein Feel Good-Buch, keine leichte Lektüre für zwischendurch, es ist vielmehr die schmerzhaft-liebevolle Geschichte einer Frau, geprägt von sanften Abgründen, ihrer Sehnsucht nach bedingungsloser, ehrliche Liebe und Geborgenheit und ihrem Kampf, den Kopf über Wasser zu behalten und dabei das Ufer nicht aus dem Blick zu verlieren. Ein Jahreshighlight.