Ein starkes Buch mit irreführendem Klappentext

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missmarie Avatar

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Ein Buch, dass sich nicht so recht in eine Genre-Schublade stecken lässt. Eine Erzählung über drei Frauen, jede steht für eine Generation ihrer Familie. Ein Roman über Schuld, Versäumnisse und vom nicht so können, wie es das Ideal vorschreiben mag. Zu recht ein Megaerfolg in den USA.

Zum Inhalt:
Die eigentliche Handlung umfasst streng genommen nur 24 Stunden. Vom Aufstehen bis zum nächsten Morgen begleiten wir die Elle, die Protagonist, durch ihren Sommertag mit der Familie im traditionellen Feriendomizil. Wie in fast jedem Jahr seit ihrer Kindheit trifft Elle dort auf Jonas - ihren Jugendfreund. Mit ihm schläft sie am Abend, bevor die Handlung einsetzt (da das bereits auf den ersten Seiten des Romans erzählt wird, ist das wohl kein Spoiler). Den ganzen nachfolgenden Tag plagt sich Elle nun mit der Entscheidung zwischen ihrer Jugendliebe und Peter, dem verlässlichen Ehemann und Familienvater. Dabei lässt sich die letzten fünfzig Jahre ihres Lebens Revue passieren. Erinnert sich an Stiefgeschwister, wechselnde Partner der Mütter und an die wechselhafte Beziehung zur ihrer älteren Schwester Anna. Dabei kommen durchaus schwer verdauliche Themen zur Sprache: Es geht um sexuellen Missbrauch in der Familie. Davon, dass das Buch keine seichte Sommergeschichte ist, erfährt man im Klappentext aber leider nichts.

Meine Meinung:
Besonders gut an dem Buch hat mir Elle gefallen. Die Figur ist in ihren Zweifeln und ihren Bedenken so plastisch dargestellt, erinnert sich so lebendig an ihre Kindheit, dass ich stellenweise das Gefühl hatte, neben ihr zu sitzen. Als erzähle mir eine alte Freundin aus ihrem Leben und von diesem Tag am mehr. Auch Peter, ihr Ehemann, und die Großeltern werden so liebenswürdig beschrieben, dass man zumindest diesen Teil der Familie gerne kennenlernen möchte. Und ohnehin - Miranda Cowley Heller kann schreiben. Die Erzählweise entwickelt einen solche Sog, dass ich bereits nach wenigen Seiten vollkommen in die Geschichte eingetaucht bin und die 100 Seiten wie im Flug gelesen waren. Ihre große Stärke sind die Beschreibungen der Settings, vor allem des Sees und des Meeres am Papierpalast (übrigens ein recht ironischer Titel für ein kurz vor dem Verfall stehendes Feriendomizil aus kleinen Hütten). Allein die Erzählweise ist es Wert, das Buch zu lesen.

In vielen Besprechungen habe ich die Kritik am Klappentext gelesen. Diese würde ich teilen. Auch wenn der Roman als Familiendrama beworben wird, ist dieses Wort eigentlich zu schwach für den familiären Missbrauch. Tatsächlich sind es gar nicht so sehr die Handlungen die dabei schockieren. Vielmehr ist es das Schweigen, das Elle wählt. Die Überforderung eines kleinen Mädchens mit der Situation. Elternteilen, denen nichts aufzufallen scheint. Dieses Nicht-Hingucken ist so intensiv, weil man niemandem wirklich die Schuld geben kann. Elle wächst nicht in einer Klischee-"Assi"-Familie auf. Man kann nicht unbedingt sagen, dass sie vernachlässigt wird oder sie ihrer Mutter egal ist. Auch gehört die Familie eher zur Mittelschicht. Aber die Erwachsenen sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, hoffen so sehr auf ihre paar Tage des Glücks, dass ihnen der Blick für andere abgeht.

Mein Fazit: Mit den authentischen Figuren und der überzeugenden Erzählweise ist der Roman zurecht ein Riesenerfolg. Wer das Buch lese möchte, sollte aber wissen, dass er sich keineswegs auf eine seichte Sommergeschichte einlässt - auch wenn die ersten Passagen so scheinen mögen.