Würde als Film besser funktionieren...

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lysch Avatar

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Seit ihrer Kindheit verbringt Elle jeden Sommer mit ihrer Familie im Papierpalast, einer Ansammlung von kleinen Ferienhütten mitten im Wald, direkt an einem See und gleichzeitig in der Nähe zum Meer. Idylle pur. Erbaut von ihrem Großvater in den Backwoods von Cape Cod steht der Papierpalast für unendlich viele schöne Kindheitserinnerungen, für Geborgenheit und Weltflucht, aber auch für Zerfall, Verlust und Schmerz. Äußerlich robust gebaut, bestehen die Hütten im Innern aus Pappe, die langsam bröckelt und sich immer mehr zersetzt. Eine gelungene Metapher für die dysfunktionalen familiären Strukturen in diesem Roman.

In dieser "Sommerresidenz" der Familie lernte Elle damals Jonas kennen und lieben, bis ein tragischer Vorfall die Jugendlichen auseinander trieb. Viele Jahre später treffen sie sich dort wieder, mittlerweile jeweils anderweitig liiert, und beginnen eine stürmische Affäre. Elles sorgsam errichtete Welt gerät daraufhin aus den Fugen - soll sie bei ihrem Mann Peter bleiben, oder ein neues Leben mit ihrer "alten" Jugendliebe Jonas wagen?

Eine Dreiecks-Liebesgeschichte, ein wenig "Was wäre wenn..." - Dramatik und dazu eine Prise düstere Familiengeheimnisse aus der Vergangenheit habe ich erwartet. Doch dieser Roman hat einfach von allem zuviel. In Rückblenden wird Elles Kindheit aufgearbeitet und den vielen Verästelungen ihres weitschweifigen Familienbaumes nachgegangen. Scheidungen, wechselnde Partnerschaften, Unfälle, Schuld, Krankheit, Tod, Missbrauch und Gewalt dominieren diese mitunter äußerst tragischen Kapitel. An jeder Ecke lauert ein weiteres Drama, jede noch so kleine Abzweigung führt in eine neue Sackgasse.

Gleichzeitig bleiben die Figuren seltsam unnahbar und sind leider fast ausschließlich unsympathisch. Zwischen dem nervenaufreibenden Hin und Her bezüglich Peter und Jonas und der Schuld, die sie aus der Vergangenheit mit sich herum trägt, bleibt die Protagonistin Elle komplett blass. Wer ist sie, abgesehen von den Beziehungen zu den Männern ihres Lebens? Was interessiert sie, wofür brennt sie? Der Klappentext verspricht einen "großen Roman darüber, was es heute bedeutet, eine Frau zu sein". Hm, schwierig.
Der Roman hat mir nichts Neues gegeben, ich nehme keine Impulse für mich mit. Stattdessen ein Sumpf aus Tragik (ohne Triggerwarnungen!) und zu wenig Tiefe für die Fülle an aufgeworfenen Themen.

Eines muss man dem Roman allerdings lassen: Die Handlung ist wirklich geschickt aufgebaut, die Rückblenden voller Cliffhanger und Andeutungen entwickeln einen gewissen Sog und halten trotz einiger Längen die Spannung aufrecht.
Man merkt, dass die Autorin bekannte Serien produziert und mitverantwortet hat. Die Szenenwechsel sitzen, atmosphärische Orte entstehen vor dem inneren Auge, Kopfkino an. Cape Cod scheint ein wunderbarer Ort für die erste und letzte Sommerliebe zu sein. Wahrscheinlich hätte die Geschichte als Film oder Miniserie wesentlich besser funktioniert. Als Roman jedoch hat sie mich irgendwo in den Windungen der toxischen Familiengeflechte und im dramatischen Hin und Her der Liebesgeschichte verloren.