Schicksal oder Zufall, eine Zeitreise

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elke seifried Avatar

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„Am Nachmittag zu Hause holte der Postbote die Briefe des Tages aus der Tasche und nahm seine tägliche geheime Tätigkeit auf. Er öffnete, las sie, schrieb sie ab und steckte sie wieder in den Umschlag.“

Dies hier ist die Geschichte eben dieses Postboten, der das Talent andere Handschriften exakt kopieren zu können besitzt und dieses Talent zu nutzen zu seinem roten Faden im Leben erkoren hat. Man darf ihn ein Weilchen bei seinem Leben in dem verschlafenen kleinen Örtchen in Kalabrien begleiten und lernt so ihn, sein Leben, seine Suche nach dem Sinn im Leben, seine Gedanken über Zufälle und auch die Dorfbewohner von Grifalco mitsamt all ihren Besonderheiten und Macken kennen.

Als Leser geht man mit ihm die Post austragen, analysiert dabei die Wartenden und deren Blicke, man öffnet mit ihm Briefe, liest sie und erfährst so davon, wer welche Affäre hat, wer wen wie und warum besticht, u.a. auch wie der Bürgermeister eine Müllverbrennungsanlage auf dem heiligen Berg des Dorfes bei seinen Wählern verkauft und wie der Postbote versucht diesen Monte Covello zu retten, natürlich zudem wer was bestellt und auch verborgene Sehnsüchte bleiben nicht im Verborgenen. Bei seinen Touren durch die Stadt werden auch einzelne Bewohner und so einige Zufälle genauer unter die Lupe genommen. Nicht nur bei seiner Tante wird sich nach dem Dorftratsch und alten Geschichten erkundigt.

Zudem erfährt man in Rückblenden, in Erinnerungen auch aus der Vergangenheit des Postboten und so, warum er alleine durchs Leben geht und welche Päckchen er dabei zu tragen hat. Man wird z.B. Zeuge, warum es mit seiner Verlobten und ihm aufgrund tragischer Umstände nicht geklappt hat, „Er ging fort und schleppte das Unglück in seinem Herzen mit. Nach diesem Tag hörte er nie wieder etwas von der einzigen Frau, die er je geliebt hatte.“, muss mit ihm darunter leiden, der Mutter nicht Lebewohl sagen haben zu können, oder muss mit ihm auch, als es bereits zu spät ist, erkennen „Wie wenig nötig gewesen wäre, um den Riss zu flicken und das Loch des Verlassenwerdens zu schließen.“ Diese Episoden haben mich sehr gerührt und bewegt, auch mein Mitleid geschürt und mir daher sehr gut gefallen.

„Der Postbote konnte nicht glauben, dass es noch jemanden auf der Welt gab, der genau die gleiche Schrift hatte wie er.“. Ganz besonders die Liebesbriefe eines Unbekannten an Dorfbewohnerin Teresa beschäftigen ihn, denn nicht nur die Schrift, sondern auch der Inhalt ähnelt seinem Leben, und nehmen daher großen Raum in der Geschichte ein. So begibt man sich mit ihm auf die Suche nach dem unbekannten Doppelgänger und darf dabei hoffen, dass die verhinderte Liebe sich eventuell vielleicht doch noch erfüllen mag. Vor allem aber auch, wünscht man sich, dass der Postbote am Ende der Geschichte nicht mehr so alleine durchs Leben gehen muss, sondern sich der schlimme Zufall der sein Liebesglück zerstört hat, sich eventuell noch aufklären wird. Ganz besonders diese Hoffnung hat mich immer ans Buch gefesselt, auch wenn ich zwischendurch durchaus die eine oder andere kleine Länge empfunden habe.

„Der Postbote hatte das Bedürfnis, sich jedes Ereignis zu erklären, nach den Regeln des Lebens zu suchen, das Gesetz zu verstehen, das alles bestimmt.“ So kann er schon mal äußerst ausführlich darüber nachdenken, ob ein Steinchen im Schuh, ihn Schmerzen ertragen lassen soll, ob sein Leben nur um diesen Schmerz herum aufgebaut werden kann, sein Leben ein Leidensweg sein muss oder ob das Steinchen ihm als Zeichen die Unwägbarkeiten des Lebens ins Gedächtnis rufen soll. Stellenweise war mir das mit Paralleluniversum und Doppelgängern im Leben etwas zu weit hergeholt, meist fand ich es aber amüsant. Gut gefallen hat mir auf jeden Fall, dass in dieser Geschichte auch unheimlich viele Botschaften fürs Leben und Gedanken um den Sinn dessen, stecken. „Dass die Wunder, auf die alle warten, nicht von Trommelwirbel angekündigt werden, sondern sich hinter der Normalität des Alltags verstecken.“, ist nur eine davon.

„Die Natur hatte die Bereiche seines Körpers und Gehirns lahmgelegt, die mit dem Gen für väterliche Zuneigung verknüpft waren.“ Der Autor vermag es sich gewählt und geschickt auszudrücken, was mich beeindruckt hat. Stellenweise fast schon philosophisch, stets mit zahlreichen Bildern versehen sprudelt hier die Geschichte vor sich hin. Trotz dem gehobenen Stil und auch dem einen oder anderen zeitgemäßen Begriff, lässt sich der Roman wunderbar locker und leicht lesen. Zudem darf man immer wieder schmunzeln, was nie verkehrt ist. Dafür sorgen zahlreiche Szenen, die an Situationskomik nicht missen lassen, so darf man z.B. einen Blick auf „… derartigen Päckchen konnte sich alles Mögliche befinden, Cremes, die den Penis wachsen ließen, Antennen, mit denen man an Wänden lauschen konnte, seltsame vibrierende Gegenstände.“ werfen und auch pointierte Beschreibungen, wie z.B. die von der jammernden Rosinuzza, der das Glück den Rücken zugekehrt hat. „Zuerst hatte es sie fett werden lassen wie einen Truthahn am Heiligen Abend, dann hatte es die Jahre ihrer Jugend verheizt, indem es dafür sorgte, dass sie alle zwei Jahre ein Kind bekam , und schließlich hatte es ihr ein Haus zugeteilt, das nicht größer als ein Taubenschlag war.“, haben mir oft ein Grinsen im Gesicht beschert. Gut gefallen haben mir auch die Kapitelüberschriften, die mit einigen Stichworten schon immer neugierig auf das Folgende machen.

„Der Postbote hatte nur wenige Begierden, aber … die Fähigkeit durch die Kleider hindurchsehen zu können. Sich am Anblick der nackten Dorfbewohnerinnen zu weiden wäre eine angenehme Art gewesen, sich die Zeit des Hungerns und Dürstens auf dem Dorfplatz zu vertreiben.“ Dass der namenlose Postbote gern ein Gullydeckel wäre, damit er den Frauen unter die Röcke schauen könnte und seine Vorstellungen davon, haben mir ihn auf den ersten Blick nicht unbedingt besonders sympathisch gemacht. Aber je mehr ich von ihm und seiner Vergangenheit erfahren habe, je mehr sich mein Mitleid geregt hat, desto mehr habe ich für ein gutes Ende für ihn gehofft. Er ist großartig erschaffen und dargestellt, ebenso wie auch alle anderen Mitspieler in ihren größeren und kleineren Rollen, bei Filomena, die Betttücher dann ausschüttelt, wenn er unter dem Balkon steht, angefangen, über Mariannuzza, die man der Spitzelei überführen kann, weil sie beim Blumen gießen, Wasser verschüttet oder auch die Kirchendienerin Mariana, die seiner Meinung nach die göttliche Bestrafung durch einen Dachziegel trifft.

Der Autor nimmt einen auch mit auf die Reise in das kleine verschlafene Nest in Kalabrien. „Boungiorno“, immer wieder ein Gruß auf Italienisch, auch Dienstbezeichnungen und der eine oder andere Ausruf sind zu finden. Mortadella Brote, die sich, der von seiner Ehefrau auf Diät gesetzte, Tabakhändler zwischen Grappa, Schinken und Provolone zuschieben lässt, und so ist stets klar, wir sind in Bella Italia. Aber auch der Dorftratsch, die Frauen, die ihre Wäsche auf den Balkonen, die in die kleinen Gässchen ragen, aufhängen, fehlen nicht, ebenso wie der Eindruck vom Bauerndorf der 1960er Jahre, der sich nicht nur darin äußerst, dass man hier schon mal einen „prüfenden Blick auf den Hund, der dem Hühnerkopf in die glanzlosen Augen starrte“, nach dem Schlachten richten kann. Auch der kleine Einblick in Rituale, Feste und Bräuche der Region und Zeit ist gelungen.

Alles in allem war ich vielleicht nicht bis ins allerletzte Detail begeistert, hatte aber wirklich vergnüglich, gute Unterhaltung, die mit einem besonderen Schreibstil punkten kann. Für fünf Sterne genügt es bei mir nicht ganz, aber sehr gute vier und eine Leseempfehlung sind auf jeden Fall drin.