Tibet im 21. Jahrhundert: Reisebericht, philosophische Abhandlung oder bevormundender Wink mit dem Zaunpfahl?

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longstocking Avatar

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Eigentlich alle drei. Deswegen tue ich mich schwer damit, dieses Buch zu beurteilen. Denn einerseits sind da wirklich die Reise ans Ende der Welt, die Lauer auf den Leoparden und die zahlreichen anderen uns Westlern unbekannten Lebewesen, sowie die eisige Abgeschiedenheit und Stille der tibetischen Hochebene. Das alles ist atmosphärisch dicht, interessant und lesenswert beschrieben.
Andererseits kann Sylvain Tesson es nicht lassen, ständig moralisierend daherzuphilosophieren. Lehrmeisterhaft kommt er daher, will uns Genügsamkeit lehren, uns zeigen, dass so wenig so viel sein kann. Nur ist ihm zeigen dabei nicht genug; alle zu entnehmenden Lehren werden minutiös aufgedröselt, damit auch der letzte Leser begreift: All die ursprünglichen Lebewesen, auf die Tesson trifft, sind uns zerstörerischen Westlern haushoch überlegen. Gönnerhaft schließt er da auch gleich die ach so unverfälschten Ureinwohner mit ein.
Ja, wir zerstören unsere Erde, sind zu viele, konsumieren, verbrauchen zu viel. Dass Tesson aber für diese Lehre ausgerechnet schwerstens ausgerüstet ans Ende der Welt fliegen muss, ist ein Widerspruch, auf den er nicht weiter eingeht. Stattdessen belehrt er uns wieder und wieder darüber, wie wir Menschen die Erde verbrauchen.
Damit nicht genug. Alle Tesson wichtigen Punkte (wie Glaube und Religion, aber auch die reinen Zahlen der Reise, die Höhe von 4000 bis 5000 Metern, die Temperaturen von bis zu -35 Grad) kommen wieder und wieder aufs Trapez: Zu viel Herumgereite auf jeder Ebene, was zumindest bei mir das Lesevergnügen erheblich geschmälert hat.
Noch ein Wort zur Sprache: Stellenweise ist das Buch sicherlich grandios übersetzt, hin und wieder jedoch hat mich die gewählte Erzählzeit dermaßen gestört, dass ich mich gefragt habe, ob dies die Schuld der Übersetzung ist oder schon im Original so gestelzt daherkam.