Stark beschäftigend

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nathalielamieux Avatar

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Direkt vor der Pazifikküste Mexikos, bei San Blas in Nayarit, ragt ein weißer Fels aus dem Meer. Für die Wixárika ist es ein heiliger Ort. Laut ihren Vorstellungen war der Felsen das erste feste Objekt, das geboren wurde, und der Ursprung allen Lebens, als die Zeit begann und nichts als kochendes Wasser die Erde bedeckte. Seit Tausenden von Jahren pilgern die Wixárika zu diesem Ort, um Opfer darzubringen und zu danken.
In Anna Hopes viertem Roman „Der weiße Fels“, übersetzt von Eva Bonné aus dem Englischen, ist dieser heilige Ort ist der Dreh- und Angelpunkt für vier lose miteinander verbundene Erzählungen. Es beginnt im Jahr 2020 zu Beginn der Pandemie mit einer Schriftstellerin, die nach Jahren erfolgloser Versuche schwanger zu werden an einer schamanischen Zeremonie teilnahm und dort für ein Kind betete. Innerhalb kürzester Zeit war sie schwanger und kehrt nun mit ihrer zweijährigen Tochter und ihrem Mann nach Mexiko zurück, um am weißen Felsen der Göttin Hamarara Dankesopfer zur überbringen. Daran schließt sich die Geschichte eines ausgebrannten amerikanischen Rockstarts an, der in den 1960er Jahren vor dem Ruhm und der Polizei flüchtet. Die dritte Geschichte geht noch weiter zurück zum Anfang des 20.Jahrhunderts, als zwei Schwestern des verfolgten Stammes der Yoeme aus ihrem Bergdorf entführt werden. Sie sollen in den Süden verschifft werden, um als Sklaven verkauft zu werden. Danach geht Hope zurück ins Jahr 1775 und erzählt von dem Zusammenbruch eines spanischen Marineleutnants. Er steckte in den Vorbereitungen, nach Norden zu segeln. Ziel war es, die Küste Kaliforniens zu kartieren und neue Gebiete für seinen König zu beanspruchen. Als die Erzählungen bei ihrem Zentrum angekommen sind, beginnt Hope mit der zweiten Hälfte dieser Erzählungen in umgekehrter Reihenfolge – eine gute Erzählkonstruktion, die uns Leser in der Gegenwart enden lässt.
Durch alle Geschichten zieht sich das Thema der Aneignung. So erheben die spanischen Kolonialmächte Anspruch auf das Land der Wixárika erheben und die mexikanischen und amerikanischen Kapitalisten tun es ihnen gleich- Die Hippies der 60er nehmen ihre rituellen Drogen zum Vergnügen und behandeln ihre heiligen Totems wie Souvenirs. Und auch die Autorin in 2020 ist so gefangen in ihrem Kinderwunsch, dass sie zu fremden Göttern betet. Doch wie unterscheidet sich das davon, fragt die Autorin, das Land indigener Völker zu beanspruchen und ihr Gold zu plündern?
Über all dem steht der weiße Fels , der die voneinander unabhängigen Geschichten verbindet und die wiederkehrenden Motive zusammenhält, die die Geschichten prägen: die drohende Katastrophe, menschengemachte Zerstörung und die erlösende Kraft der Liebe.
Anna Hope macht in einer Anmerkung deutlich, dass dies ein sehr persönliches Buch ist. Die Geschichte der Protagonistin ähnelt ihren eigenen Erfahrungen einer schamanischen Zeremonie und dem Beten für ein Kind. Als ihre eigene Tochter ebenfalls zwei Jahre ist, kehrt sie zum weißen Fels zurück, um ein Dankesopfer zu überbringen. Dort recherchierte sie die Geschichten rund um diesen Fels – die alle im Roman auf realen Ereignissen basieren. Vielleicht wird aus diesem Grund das Lesen sehr intensiv und zieht einen gerade zu in den Text hinein. Nicht alle vier Geschichten sind gleich stark, aber für mich überraschend hat mich gerade die am längsten zurückliegende Geschichte der Konfrontation zwischen zwei Marineoffizieren sehr beschäftigt. Ich mochte bereits „Was wir sind“ von Anna Hope, aber dieses Buch ist noch einmal deutlich stärker.