Unser koloniales Erbe

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alasca Avatar

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Anna Hopes Roman führt uns an die mexikanische Pazifikküste, in den Ort San Blas, vor dessen Stränden ein weißer Fels liegt, der von den Indigenen für heilig gehalten wird. Dort verorten sie den Sitz der Meeresgöttin Tatei Haramara, dort hat die Welt ihren Anfang genommen, denn „An diesem Ort verliebte sich die Formlosigkeit zum ersten Mal in die Form.“

Den Reigen von Hopes vier Protagonisten eröffnet „Die Schriftstellerin“, deren Geschichte autobiografische Bezüge hat. Vor Jahren hat sie dort um die Empfängnis eines Kindes gebetet und kehrt nun zurück, um ein Dankesopfer zu bringen. Sie will die fremden schamanischen Riten für ihre persönlichen Zwecke benutzen und die Geschichte der Gegend für ihren Roman verwenden. Trotz ihres (prophylaktisch formulierten?) Unbehagens macht Hope jedoch mit „Der weiße Fels“ genau das:

„Sich am Rohmaterial der Geschichte bedienen und aus den Schmerzen, der Mühsal und den unvorstellbaren Verlusten eine Geschichte formen, die sich verkaufen lässt.“

Die Struktur des Romans bewegt sich in die Vergangenheit und wieder zurück – Die Schriftstellerin, 2020 – Der Sänger, offensichtlich Jim Morrison, 1969 – Das Mädchen (eine Indigene), 1907 – Der (spanische) Leutnant, 1775. Das Kapitel in der Mitte heißt „Der weiße Fels“ und bleibt vielsagend undatiert. Danach geht es in umgekehrter Reihenfolge zurück in die Gegenwart des Coronajahres 2020.

Der Sänger im Jahr 1969 hat sich im Kommerz des Erfolges selbst verloren. Berauscht von den traditionellen Drogen der Indigenen – Peyote, Mescal, Marihuana - hofft er auf Erleuchtung und strandet auf dem weißen Felsen.
Das Mädchen aus dem Volk der Yoeme im Jahre 1907 versucht, kolonialen Soldaten zu entkommen. Ihre Flucht im Angesicht des weißen Felsens misslingt, aber sie gibt die Hoffnung nicht auf.

Der Leutnant im Jahre 1775 übergibt seinen Freund den Behörden von San Blas – dieser ist verrückt geworden: Er bezeichnet ihr Tun im Auftrag des Königs als unrecht und böse. Der Leutnant aber beugt sich der Macht: „Es lässt sich nicht mehr ändern. […] Wenn wir es nicht sind, sind es die Russen oder die Briten.“

Hopes Roman hat mich gefesselt, trotz der täuschenden Unverbundenheit ihrer Charaktere. Dazu trägt maßgeblich ihre einfühlsame und präzise Sprache bei, die schöne Bilder findet. Auch ihre Figurenzeichnung gefiel mir gut, etwa wenn sie die Schriftstellerin über den Sänger sagen lässt, „Sie stellte ihn sich als eine Art kaputtes Transistorradio vor, empfänglich für die Frequenzen von Revolution und Revolte.“ Ihre Figuren können auch dann faszinieren, wenn sie einem nicht sympathisch sind. Aber wozu dieses scheinbar unzusammenhängende Personenaufgebot?

Es geht um koloniale Verbrechen, um unser historisches Erbe, um kulturelle Aneignung. Es geht darum, wie wir alle durch Historie und Narrative verbunden sind. Es geht um das Paradox, sich Kulturen zuzuwenden, die von unseren Vorfahren zerstört wurden, und dort Antworten auf Fragen zu suchen, die unsere eigene Kultur aufgeworfen hat. Und vielleicht ist es so. Vielleicht kann ein weißer Fels vor der Küste Mexikos tatsächlich spirituelle Antworten geben. Unsere zutiefst unbeseelte kapitalistische Gegenwart vermag es offensichtlich nicht.

Hopes Roman erinnert uns daran, dass wir auch als woke Menschen und wohlmeinende Touristen auf den Spuren kolonialer Eroberer wandeln. Und daran, dass diese Welt, die wir durch Verdrängung, Ausbeutung und Zerstörung geschaffen haben, im Begriff ist, durch unsere eigene Schuld unterzugehen.