Bewegende Lebensbeichte

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aoibheann Avatar

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Die Art der Erzählung ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig und lliegt vielleicht nicht jedem. Die Autorin lässt ihre Protagonistin in einem Monolog erzählen. Es gibt keine einzelnen Kapitelm nur eine Unterteilung in zwei Teile. Im ersten Teil erzählt Heleen von ihrer Kindheit und Jugendzeit. Aufgewachsen in bescheidenen und beengten Verhältnissen, als älteste Tochter stark eingebunden in den Haushalt der Familie. Es entsteht der Eindruck eines heranwachsenden Mädchens, das mit den an sie gestellten Aufgaben (Haushalt, Arbeit um Geld für die Familie zu verdienen, Versorgung der jüngsten Schwester) überfordert ist. Wie viele junge Mädchen in diesem Alter träumt sie von ihrer Zukunft. Sie möchte sich von ihrem Elternhaus und ihrem bisherigen Leben abgrenzen. Diese Abgrenzung kollidiert jedoch mit den Vorstellungen des sehr gläubigen Vaters. Einzig die Mutter bringt Verständnis für den Wunsch von Heleen auf.
Heleen macht ihre ersten Erfahrungen im Leben als Erwachsene. Zuerst als heimliche Geliebte eines älteren Mannes, der sie dazu auch noch ausnutzt bis zu ihren Erfahrungen in der Arbeitswelt. Sie erkennt ihren Wert bzw. legt ihren eigenen Wert fest. Heleen hat keine hohe Schulbildung, aber sie arbeitet hart und sie erarbeitet sich dadurch einen gewissen sozialen Status. Oft ist der Schein größer als das reale Leben. Für einen Außenstehenden hat sie erreicht, was sie sich als Jugendliche vornahm. Doch sie bleibt ein unruhiger und getriebener Mensch. Recht unbedarft "schlittert" sie so auch in ihre erste Ehe hinein. Auch hier klaffen ihre Erwartungen und die Realität auseinander. Richtig glücklich, von Herzen glücklich, wird sie auch hier nicht.
Bei ihrem letzten Besuch bei ihren Eltern bemerkt sie dann eine Sehnsucht nach ihrem alten, einfachen Leben. Gleichzeitig ist sie froh dieser Welt wieder entfliehen zu können. Nach dem Tod der Mutter nimmt sie ihre jüngste Schwester Lientje zu sich. Und obwohl Heleen die weitaus ältere Schwester ist, bekommt man den Eindruck, als würde die Ältere sich an die Jüngere klammern, um etwas zu bewahren, das es so nicht mehr gibt.

Im zweiten Teil lernt Heleen dann Hannes kennen. Nach einer überschwenglichen Kennenlernphase und einer heftigen Verliebtheit, kommen Heleen dennoch Zweifel. Sie ist älter als Hannes. Kann sie ihm geben, was er in ihren Augen verdient? Ist sie "genug"? Es schleichen sich erste depressive Phasen ein, die sie entweder überspielt oder die recht schnell wieder vergehen. Aber im Laufe der Zeit verfestigen sich ihre Probleme und nehmen immer mehr Platz in ihrem Leben ein. Krankhafte Eifersucht, Probleme mit dem älter werden und auch ein gewisser Realitätsverlust. Plötzlich stellt sie fest, dass die kleine Schwester erwachsen geworden ist und ein eigenes Leben hat. Das Lientje nicht der Mensch ist, den sie sich in ihrer Vorstellung erschaffen hat. Heleens Erkrankung gipfelt letztlich einer einer unvorstellbaren Tragödie.

Das Buch hat mich sehr beeindruckt. Vor allem der zweite Teil ging mir sehr nahe. Es ist eine unglaubliche Berg- und Talfahrt, bei der man als Leser zwischen Mitgefühl und Unverständnis schwankt. Man vermutet nicht, dass das Buch bereits in den 1930ern entstanden ist. Es mutet sehr modern an und könnte ohne weiteres auch im Jahr 2021 geschrieben worden sein.
Durch die oft direkte Ansprache ("Schwester...") entsteht eine unheimlich starke Intimität, man fühlt sich als Leser wie ein heimlicher Zuhörer. Es ist ein Buch, das mich sehr bewegt hat und das noch lange in mir arbeitet.