Eine eindrückliche Beschäftigung mit Geschlechterrollen und Moralvorstellungen um 1930

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mrscatastrophy Avatar

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"Die Beichte einer Nacht" ist ein Roman der niederländischen Autorin, Politikerin und Frauenrechtlerin Marianne Philips. Ende des 19. Jahrhunderts geboren, saß die Sozialdemokratin als eine der ersten Frauen der Niederlande im Parlament. Der Roman erschien schon 1930.

Geschrieben ist der Roman als Monolog der Patientin Heleen, die in einer psychiatrischen Klinik untergebracht ist. Eines Nachts schildert Heleen einer Nachtschwester ihre Lebensgeschichte, die von gesellschaftlichen Aufstiegen aus der Arbeiterschicht, Abstiegen, ihrem komplizierten Verhältnis zu ihrer jüngsten Schwester und einigen Unglücken geprägt ist.

Anfangs hatte ich wegen der Monologform etwas Sorge, dass das Buch anstrengend werden könnte. Das ist aber nicht der Fall, es entfaltet einen unglaublichen Sog und ich hatte als Leserin oft das Gefühl, selbst die angesprochene Nachtschwester zu sein und erlebte ein ziemliches Wechselbad der Emotionen Heleen gegenüber. Es geht nicht darum, Heleen als Person zu mögen oder zu hassen - dafür ist der Charakter viel zu komplex - sondern darum, nachzuvollziehen, warum ihr Weg sie in die Nervenheilanstalt gebracht hat. Denn, so macht Heleen deutlich, meist stehen hinter psychischen Erkrankungen bestimmte Gründe.

Das Buch ist eine spannende Charakterstudie, die ihrer Zeit definitiv voraus war. Offen spricht Heleen über Sexualität, die Beziehung zu Männern, ihre Berufstätigkeit, Träume und psychische Konflikte und dabei scheinen eindrücklich die damaligen Rollenerwartungen durch, gegen die Heleen aufbegehrt. Allerdings kann sie sich aber nicht völlig gegen die verinnerlichten Erwartungen an sie als Frau wehren und verzweifelt immer wieder darüber, dass sie diese Erwartungen nicht gänzlich erfüllen kann - insbesondere die, die sie selbst an sich hat. Auch die differenzierte Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen ist gelungen und gleichzeitig für diese Zeit sicher eher selten. Dabei wertet der Roman nicht, sondern lässt Heleen den Raum, zu erzählen.

Ich finde es großartig, dass der Diogenes Verlag entschieden hat, dieses Buch aufzulegen, denn es ist ein spannendes historisches Dokument, das viele Kritikpunkte der damaligen Frauenbewegung aufgreift. Themen wie die Zugehörigkeit zu einer niedrigen Schicht, der Wunsch nach Aufstieg, Geschlechterrollen und das Nichterfüllen von Erwartungen werden bar jedes Klischees verhandelt und sorgen für eine hohe Authentizität. Daher empfehle ich das Buch definitiv allen weiter, aber vor allem denen, die einen Einblick in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die damalige niederländische Gesellschaft und vor allem die Stellung von Frauen in dieser erhalten möchten.