Psychogramm einer Kranken und einer kranken Gesellschaft

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thirteentwoseven Avatar

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Wie ein nicht endender Redefluss beginnt die Lebensgeschichte von Heleen. Sie ist Patientin in einer Nervenheilanstalt und erzählt einer vielleicht gar nicht vorhandenen Nachtschwester ihr Leben. Monologisch und nur aus ihrer Sicht.

Zuerst war mir dies etwas viel. Als würde ich zugeschwallt, aber erstaunlicherweise fühlte ich mich doch in die Geschichte hineingesogen und geriet immer tiefer in ihren Bann.
Am Ende des Buches und der Geschichte bin ich von dem Monolog fasziniert. Aus dem Anhang habe ich erfahren, dass das Buch an die 90 Jahre alt und zum Teil autobiografisch ist. Es sollte die Heilung von Marianne Philips, der Autorin, unterstützen, die in jungen Jahren an einer Wochenbettpsychose und später an psychischer Erschöpfung und Angstzuständen litt.

Ich finde, dass es Philips hervorragend gelungen ist, das Psychogramm einer kranken und verletzten Seele zu zeichnen und dieses geschickt mit Sozial- und Gesellschaftskritik zu einem äußerst spannenden Roman zu verbinden. Zeitlos. Klassisch.
Heleen wächst in kleinbürgerlichen, sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Zeit für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit oder Fähigkeiten gibt es nicht. Heleen muss schon von Kindesbeinen an mitarbeiten und als Jugendliche die Pflege ihrer kleinen Schwester übernehmen. Liebe und Anerkennung fehlen. Selbst der Schlaf wird ihr genommen. Harte Arbeit, Pflicht, Aufopferung und Gottesfurcht sind die Regeln, die ihr Leben bestimmen. Als Heleen erkennt, dass sie durch ihre Schönheit Männer manipulieren und damit ausbrechen kann, ergreift sie die Chance, dem erbärmlichen Leben zu entkommen. Sie schafft den beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg durch das Bett. Doch wirklich frei, fühlt sie sich nicht, sondern schlecht und besudelt.
Nachdem sie ihre Ehe aus diesen Gründen beendet, verliebt sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben. Hannes, ihr Traummann, liebt sie auch, wie sie meint, aber wegen ihrer Schönheit und nicht um ihrer selbst willen. Eine erste wirkliche glückliche Phase in ihrem Leben beginnt. Als ihre Schönheit langsam vergeht, kommt es zur ernsten Erkrankung und Eskalation. Eng verbunden mit ihrem und Hannes Schicksal ist auch das Schicksal der kleinen Schwester Lientje, die bei den beiden aufwächst.

Phillips schreibt nur aus der Perspektive von Heleen, wobei diese sich scheinbar um Objektivität bemüht und auch kritisch über sich selbst resümiert. Die Einblicke in ihre kranke Seele sind erschütternd und beängstigend. Am Ende wusste ich sogar nicht mehr, wie ich das Erzählte einordnen sollte. Ist das Erzählte tatsächlich passiert oder vielleicht nur ein wahnhaftes Hirngespinst der kranken Heleen. Gibt es die freundliche Nachtschwester - oder nicht? Ist es vielleicht sogar Lientje, die an ihrem Bette wacht, über das Erzählte weint und am Ende sogar für die Kranke betet? Ist das schreckliche Ende, über das Heleen berichtet überhaupt geschehen? Ob Wirklichkeit oder Phantasie ist am Ende sogar gleich, beides ist in seiner Art erschreckend.
Die Kritiken sprechen diesen Punkt nicht an. Ich finde aber, dass er durchaus eine Überlegung wert ist.
Fazit:
Ein super spannende Geschichte. Ein zeitloses Psychogramm einer Kranken und einer kranken und krankmachenden Gesellschaft. Sehr lesenswert.