Die Macht der Bücher

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kiryl Avatar

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Handlung:
Leipzig 1943: Ein Junge, der nur die Welt der Bücher kennt. Der mit abenteuerlustigen Seemännern auf den Ozeanen segelt, zusammen mit Heldinnen und Helden die guten Tugenden und die Liebe preist. Der sich Seite um Seite in eine aufregende, von Idealen geleitete Realität entführen lässt – und doch die Wirklichkeit in den verwinkelten Gassen der Bücherstadt Leipzig nicht einmal erahnt. Seit 1933 hat sich vieles gewandelt. Zwar ist der Herzschlag der Bücherstadt, wie er im Stampfen der Druckermaschinen erklingt, so lebendig wie eh und je. Doch es sind andere Werke, die nun mit bleienden Lettern den Weg auf Papier finden. Werke, die bei der Verbreitung der nationalsozialistischen Propaganda eine Schlüsselrolle einnehmen sollen. Auch deshalb fallen in der Nacht die Bomben. Nur durch einen Mann namens Mercurio gelingt es dem Jungen, zu überleben. Gemeinsam mit dem geheimnisumwitterten Bücherdieb reist er durch das kriegsgezeichnete Deutschland, stets auf der Suche nach einem ganz besonderen Buch. Ein Buch, mit dem nicht weniger als die Beschwörung des Teufels möglich ist…

Doch Geschichten wie diese entspinnen sich nicht aus dem Nichts. Vielmehr ist es die Vergangenheit, die die ersten Sätze eines jeden Ereignisses schreibt. Denn weit vor jener Nacht, ja 10 ganze Jahre zuvor, ist es die Liebe des Jacob Steinfeld, die jene ersten Worte definiert. Der Buchbinder der renommierten Steinfeld’schen Buchbinderei Montecristo in Leipzig verliert sein Herz ausgerechnet an Juli Pallandt, der Tochter des einflussreichen Verlegers, mit welchem Jacob schon lange im Clinch liegt. Auch Grigori, Jacobs wortgewandte Mitarbeiter und Freund, kann sich ihrer faszinierenden Art nicht entziehen. Doch er ist selbst verliebt – in eine Seiltänzerin hoch oben über den Dächern der Stadt. Auch Juli hegt Gefühle für Jacob und betraut ihn mit einer ganz besonderen Aufgabe. Er soll ein Manuskript für sie binden, das aus ihrer Feder stammt. Eine Tat, die gefährlicher ist als sie scheint. Gleichzeitig ist das Montecristo auch von anderer Seite bedroht. Denn Jacob hat sich mit den sogenannten „Schutzmännern“ angelegt und Grigori ist ein russischer Jude.

Im Jahre 1973 stoßen der Buchhändler Robert Steinfeld und seine Konkurrentin Marie bei der Auflösung der Bibliothek des Maximilian Pallandt auf Bücher, welche mit einer Prägung der Steinfeld’schen Buchbinderei versehen sind. Doch das Jahr liegt weit nach jenem, in welchem das Montecristo im Bombenhagel zerstört wurde. Das Mysterium um die neuen Steinfeld-Ausgaben zieht Robert schon bald tief hinein in einen Strudel der Erinnerungen. Auf den Spuren der Vergangenheit versucht er zusammen mit Marie, Antworten auf das ihm unbekannte Schicksal seiner Eltern zu finden – denn Robert ist niemand anders als der Junge. Ein Junge, der nur die Welt aus Büchern kannte.

Meinung:
Wenn Kai Meyer sein Erzähltalent in neuen Büchern bindet, bin ich jedes Mal von großer Vorfreude und Spannung erfüllt. Bisher waren es stets Fantasyromane, die den Weg aus seiner Feder in mein Regal fanden. Seine wortgewandten Zeilen nun in zeitgeschichtlichen Sphären zu erleben, war für mich ein ganz neues Erlebnis – und zwar ein großartiges! Schon gleich auf den ersten Seiten lässt er das flammenumzüngelte Graphische Viertel bildgewaltig zwischen den Buchdeckeln emporlodern. Fast meint man, ein verzweifeltes Stampfen der Druckermaschinen zu erhaschen, während ihre Letter als bleiender Fluss durch die Straßen mäandern.

In Mitten dieses nächtlichen Schauspiels setzt Kai Meyer den Jungen und die Bücher. Denn während die Flammen tausenden Menschen das Leben nehmen, schenken sie dem Jungen die Freiheit. Eine Freiheit, die sich eng an den Bücherdieb Mercurio bindet, muss der Junge doch von nun an Buch um Buch aus Bibliotheken in ganz Deutschland stehlen. Wird Mercurio durch den Jungen zunächst als Retter wahrgenommen, wandelt sich das Verhältnis zwischen den beiden Charakteren schon bald. Dabei lässt es sich nicht eindeutig auf eine bestimmte Verbindung reduzieren. Vielmehr wogt es hin und her, ist oft von Misstrauen, dann wieder von einer Vater-Sohn-Beziehung geprägt. Dieses unstete Verhältnis zwischen Mercurio und dem Jungen habe ich als sehr realitätsnah und authentisch empfunden.

Diese Zeitebene, welche im Jahre 1943 ihren Anfang findet, ist eingebettet in Geschehnisse aus dem Jahre 1933 und 1973. Dicht miteinander verwoben entsteht so ein aufregendes Gefüge aus drei Geschichten, welche auseinanderdriften, genau im richtigen Moment wieder zusammenfinden und sich am Ende zu einer großen Erzählung vereinigen. Die Art und Weise, wie es Kai Meyer gelingt, über Zeit und Raum hinweg einen Spannungsbogen in die Handlung zu zeichnen, hat mich sehr beeindruckt.

Während die Reise von Mercurio und dem Jungen durch dessen kindlichen Blickwinkel auf die Geschehnisse des 2. Weltkrieges geprägt ist, weist Jacob Steinfeld eine deutlich weitere Perspektive auf die nationalsozialistische Herrschaft auf. Allerdings ist auch in dieser Zeitebene das Verständnis der Geschehnisse eingeschränkt, hat Jacob doch drei Monate abgeschnitten von jeglichem Nachrichtenfluss im Gefängnis verbracht. Auch deshalb zeigt sich dem Leser nur ein Ausschnitt aus der Zeitgeschichte der 30er Jahre. Dabei legt Kai Meyer immer wieder den Schwerpunkt auf die Bedeutung von Spiritualität und Okkultismus in der NS-Ideologie. Es ist ein Fokus, der sinnvoll im Bezug mit der Handlung steht und darüber hinaus mein geschichtliches Wissen erweitern konnte.

Oft ist es das Cover, welches über Kauf oder Nicht-Kauf eines Buches entscheidet. Es ist wie ein Gesicht, welches Freude, Aufregung, Trauer, Unbehagen, Spannung und noch vieles mehr verkörpern kann. Auch das Cover von „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ trägt einen solchen Ausdruck in sich. Auf mich wirkt es trotz des hellen Lichteinfalls düster, bedrückend – gleichzeitig jedoch auch unstet, als könnte sich das, was das Cover zeigt, im nächsten Moment verändern. So, wie sich auch das Gesicht der Bücherstadt von 1933 über 1943 bis 1973 wieder und wieder gewandelt hat. Dieses Gefühl des Wandels steht im Kontrast zu der fotographischen Gestaltung, welche stets Zeugnis des Augenblicks ist. Gerade dieses Spannungsverhältnis hat auf den ersten Blick mein Interesse für das Werk geweckt.

Fazit:
"Die Bücher, der Junge und die Nacht" ist ein beeindruckendes Werk, geprägt von bildgewaltigen Eindrücken, interessanten Charakteren und hochgradiger Spannung. Wieder einmal spielt Kai Meyer das ganze Potential sein Erzähltalentes aus, lässt die Bücherstadt Leipzig zu jeder Zeit lebendig werden. Ein weiteres Buch über Bücher für jedes Herz, in dem die Liebe für Geschichten und das Interesse an Geschichte dicht zusammenschlagen.