Die kleinen Anfänge einer großen Klinik

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caro.booklover Avatar

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Ich hatte aufgrund des Klappentextes ein wenig Sorge, dass sich die Liebesgeschichte in den Vordergrund drängen könnte - das ist bei historischen Romanen ja leider häufig ein Drahtseilakt. Ich war insgesamt positiv überrascht, da der Teil der Geschichte zum Glück nicht ins Kitschige abrutschte und im Verhältnis zum Rest einen guten Anteil hatte. Eher gestört hat mich da das Techtelmechtel (oder auch nicht - ja, was denn nun?) zwischen Prof. Dieffenbach und der Gräfin Ludovica (Letztere hat die Autorin erfunden...ich finde es immer etwas schwierig, echten historischen Personen ein Verhältnis mit einer erfundenen Figur anzudichten, zumindest wird vom Wahrheitsgehalt diesbezüglich im Nachwort nichts erwähnt). Das war ein ewiges Hin und Her und für die Geschichte völlig unnötig. Stilistisch haben mich die meisten Dialoge nicht so sehr überzeugen können. Der Zeitgeist wurde sprachlich sicherlich getroffen, dennoch wirkten viele Gespräche merkwürdig unbeholfen oder distanziert oder aber es gab keinen neuen Input für den Leser, sondern nur die Wiederholung vorheriger Ereignisse oder Gespräche. Da habe ich leider einige Sätze als leere Hülsen empfunden.
Inhaltlich hat die Autorin viel zu erzählen. Die Protagonistin Elisabeth, die als "Wärterin" (die Bezeichnung trifft es bei den meisten dieses Berufsstandes zu dieser Zeit ehrlicherweise besser als "Pflegerin") in der Charité anfängt, wird dabei das Zugpferd für die Reise durch die verschiedenen Abteilungen der Charité. Man folgt ihr zu den Syphiliskranken, durch die Psychiatrie, die Chirurgie, einen kurzen Ausflug gibt es auch in die Innere Medizin. Das Wissen um die Ursachen von Erkrankungen (und damit auch meist deren Behandlung) ist zur damaligen Zeit im 19. Jahrhundert noch rudimentär, unbekannt sind steriles Arbeiten und Anästhesie im "OP" (ich möchte den Hörsaal, in dem zig Zuschauer Platz nehmen können und in dessen Mitte ein armer Patient operiert wird, eigentlich nicht als OP bezeichnen ;) ). Auch die Behandlungsmethoden in der Psychiatrie sind grausam und grenzen an Folter. All diese Geschichten beschreibt die Autorin, aber es bleiben eben episodenhafte Geschichten. Elisabeth springt durch die verschiedenen Abteilungen und so bleibt das Gefühl, dass man nicht alles erfahren hat, dass es noch mehr zu wissen gibt. Genauso passiert es mit dem eigentlichen Aufhänger zu Beginn: Die große Choleraepidemie ist nach wenigen Seiten abgehandelt und spielt dann keine Rolle mehr. Das fand ich schade. Offenbar wollte die Autorin viele Aspekte unterbringen, für mich stellte sich aber eher das Gefühl ein, dass ich förmlich durch die Charité rasen muss und alles schnell vorüberzieht. Ein paar Seiten mehr hätten dem Roman sicherlich nicht geschadet und wie schon geschrieben, hätte ich auf die irgendwie-Affäre-aber-eigentlich-auch-nicht von Prof. Dieffenbach gut verzichten können. Apropos: Seine geschätzte Gräfin Ludovica von Bredow wurde von der Autorin erfunden. Blöd, dass zur gleichen Zeit die Prinzessin Elisabeth Ludovika lebte und die beiden auch noch in der gleichen Szene auftreten. Irgendwie hat es mich sehr gestört, dass die Autorin für ihre kreierte Gräfin keinen anderen Namen finden konnte, damit man dort nicht durcheinander kommt.

Fazit:
Ein durchaus guter historischer Roman, der für mich inhaltlich zu schnelllebig und abgehackt wirkte mit vielen episodenhaften Geschichten, die die Autorin offenbar unbedingt loswerden wollte. Stilistisch konnten mich außerdem einige Dialoge nicht wirklich überzeugen. Ob ich den 2. Teil lesen werde, weiß ich ehrlich gesagt noch nicht.
Übrigens: Die Autorin stützte sich in ihrer Recherche für den Roman maßgeblich auf das Medizinhistorische Museum der Charité - dieses ist nicht nur wegen Virchows sehr interessanter Sammlung einen Besuch wert. Ich kann den Besuch allen, die sich für Medizingeschichte interessieren, nur empfehlen!