Neues erfährt man nur über sich selbst

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buecherfan.wit Avatar

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A.D. Millers Debütroman “Die eiskalte Jahreszeit der Liebe” ist kein Liebesroman, auch wenn der deutsche Titel dies auf den ersten Blick vermuten lässt. Es geht um den 38jährigen Londoner Anwalt Nick Platt, der von seiner Firma für viereinhalb Jahre nach Moskau geschickt wird, um dort zusammen mit seinem Vorgesetzten Paolo Verträge mit russischen Partnern zu überprüfen und - wenn es nichts zu beanstanden gibt - grünes Licht für Kredite im hohen dreistelligen Millionenbereich zu geben, die ausländische Banken in den russischen Markt, vor allem in das boomende Ölgeschäft pumpen.
Eines Tages lernt er in der Metro zwei junge Frauen kennen, Mascha und Katja, und verliebt sich in die schöne Mascha. Die beiden behaupten, Schwestern zu sein und machen ihn mit ihrer “Tante” Tatjana Wladimirowna bekannt. Die alte Dame möchte ihre sxchöne Moskauer Wohnung gegen eine moderne in einem Neubau tauschen, um ihren Lebensabend auf dem Land außerhalb von Moskau zu verbringen. Nick soll für Tatjana Wladimirowna den Papierkram erledigen. Schon bald hat er Zweifel und Ahnungen, dass er in unsaubere Geschäfte verwickelt wird, aber er verdrängt sie aus Liebe zu Mascha und handelt nicht, solange es noch Zeit ist.
Ich-Erzähler Nick erzählt die Geschichte seiner Moskauer Jahre im Rückblick, als er längst wieder in London ist. Es handelt sich um eine Beichte, die er für seine englische Verlobte zu Papier bringt. Er glaubt, reinen Tisch machen zu müssen und überlässt ihr die Entscheidung, wie sie damit umgeht. Der Leser weiß schon sehr früh, dass die Sache kein gutes Ende nimmt. Es gibt genügend Hinweise und Vorausdeutungen, und auch der Protagonist ahnt trotz aller Verdrängungsmechanismen , dass er irgendwann eine Grenze überschritten und sich als ein anderer, schlechterer Mensch erwiesen hat: “Neues erfährt man nur über sich selbst” (S. 271). Er hat am Ende ein schlechtes Gewissen und auch ein gewisses Schuldempfinden, aber es ist zweifelhaft, ob er seine Tat wirklich bereut. Das vorherrschende Gefühl ist schließlich nicht Reue, sondern Verlust. Er vermisst das aufregende Leben in Moskau, den russischen Winter, und er vermisst noch immer Mascha. Er hat einen langweiligen Job als Abschlussprüfer in seiner alten Firma und ist lediglich um 25.000 Dollar ärmer in sein spießiges, schales Leben zurückgekehrt, zu dem auch die namenlose Verlobte gehört, die er nicht gerade leidenschaftlich liebt.
A.D. Miller war selbst drei Jahre Auslandskorrespondent für The Economist in Moskau und hat sich - genau wie sein Protagonist - zugleich als Insider und als ausländischer Besucher ein Bild von Putins Russland zu Beginn des 21. Jahrhundert machen können. Er liefert eine sehr negative Momentaufnahme der russischen Gesellschaft mit der allgegenwärtigen Korruption, dem Gegensatz zwischen unvorstellbarem Reichtum und krasser Armut, Prostitution, Dekadenz und Luxus und Verbrechen bis in die höchsten Kreise. Macht, Geld und kriminelle Praktiken sind unauflöslich verwoben. Jeder kämpft rücksichtslos für seinen eigenen Vorteil, und ein Menschenleben zählt nicht viel. Deshalb macht es auch Sinn, dass der Betrug der Kleinkriminellen durch ein betrügerische Ölgeschäft von gigantischem Ausmaß gespiegelt wird. Es passieren außerdem Morde, zum Beispiel der an dem Freund von Nicks Nachbarn Oleg Nikolaewitsch. Der ermordete Konstantin Andrejewitsch ist das Schneeglöckchen, auf das der Originaltitel “Snowdrops” anspielt. Im Moskauer Slang wird damit eine Leiche bezeichnet, die erst bei Einsetzen des Tauwetters unter dem Schnee zum Vorschein kommt. Im übertragenen Sinn bezeichnet es das Verborgene, das offenbart wird. Auch Nick sieht sich erst in später Selbsterkenntnis so, wie er wirklich ist: “Ich war der Mann auf der anderen Seite der Tür. Mein Schneeglöckchen, das war ich.” (S. 271)
Aber die Russen sind nicht allein die Bösen. Die Ausländer kommen auch nicht viel besser weg, denn gerade an ihnen zeigt der Autor, wie schnell moralisch-sittliche Überzeugungen zugunsten von Gier und Genuss aufgegeben werden. Sie profitieren von Luxus und Dekadenz und fragen nicht mehr nach Moral und Anstand.
Dem Autor ist ein lesenswerter Erstlingsroman gelungen, der nur wenige Schwächen aufweist. Zum einen eignet sich keiner der Charaktere als Sympathieträger oder Identifikationsfigur, und vor allem Nick Platt bleibt blass und distanziert, zum anderen mindern die zahlreichen Vorausdeutungen die Spannung erheblich. Der Erzähler kennt das (bittere) Ende, und der Leser ahnt es frühzeitig. Dennoch ist dies ein durchaus empfehlenswerter Roman.