Gruß, die Ihrige

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linus63 Avatar

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Der Regierungschefin einer westlichen Industrienation fällt bei einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn ein Bahnhofsschild auf den Kopf. Als sie wieder aus dem Koma erwacht, fehlen ihr nicht nur die Erinnerungen an die letzten 20 Jahre, sondern auch jeden Morgen erneut die Informationen vom Vortag. So erfährt sie jeden Morgen auf´s Neue, dass sie ein Land zu regieren hat. Der Minister für Außerordentliche Vorkommnisse reist mit wenigen Eingeweihten an und sie beraten, wie weiter zu verfahren ist. Es wird beschlossen, sie weiterhin im Amt zu belassen und sie jeden Morgen via Podcast neu ins Bild zu setzen. Dies funktioniert so lange, bis sie bemerkt, dass Emotionen die Erinnerung fördern und ihr engster Stab nicht mit offenen Karten spielt. Daraufhin setzt sie alles daran, ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, was ihr einerseits große Popularität einbringt, sie andererseits für die Politiker unberechenbar macht ...

Das Cover der "Eisläuferin" finde ich optisch gelungen und es weckt meine Neugierde. Bei genauer Betrachtung in Verbindung mit dem Text des Buchrückens besteht kein Zweifel mehr, welche Regierungschefin einer westlichen Industrienation gemeint sein könnte, springt mir doch vom Sockel der Spieldose der Bundesadler, eingerahmt von Bändchen in Schwarz-Rot-Gold direkt ins Auge. Bereits jetzt ist zu erkennen, dass es sich um eine Politsatire handelt.

Nach wenigen Seiten habe ich mich an den dichten, trockenen, fast schon distanzierten und oft ironischen Schreibstil gewöhnt, der meist flüssig und gut zu lesen ist. Es wird aus der Sicht verschiedener Personen berichtet, wobei diese fast ausschließlich als "er" oder "sie" bezeichnet werden. Dies bremst teilweise den Lesefluss, weil nicht immer auf Anhieb klar ist, wer denn nun gemeint ist und ich manche Passagen zweimal lesen musste. Auffällig in diesem Roman ist, dass außer dem Sicherheitschef und dem Therapeuten niemand mit Namen, sondern ausschließlich nach seiner Funktion bezeichnet wird - gewöhnungsbedürftig, aber im Rahmen einer Satire passend.

Die Grundidee zur Geschichte - der Erinnerungsverlust einer Person für einen gewissen Zeitraum mit nächtlichem Reset, ausgelöst durch einen Unfall  - ist nicht neu, mir bisher im Kontext der Politik aber noch nicht begegnet. Die Handlung ist zwar amüsant, beinhaltet aber keine Höhepunkte und ist meinem Empfinden nach Kulisse für Wortspiele, Anspielungen in Namensgebungen, leere Phrasen und Situationskomik, die das Geschehen lebendig machen. So ist z.B. Herr Bodega ihr persönlicher Sicherheitschef und La Manga der Name des Hotelzimmers in Moskau. Köstlich amüsiert habe ich mich über die Gedanken der Regierungschefin, als sie sich selbst bei ihrer morgendlichen Einweisung im Podcast beobachtet. Dabei beschreibt sie sich sehr treffend mit den Augen einer Außenstehenden, jedoch ist ihr "die Frau auf dem Bildschirm seltsam fremd geblieben" (S. 76) und "sprach offensichtlich nur einen Bruchteil dessen aus, was sie gerne gesagt hätte" (S. 77) ...  Es werden aber nicht nur Schwächen betrachtet, sondern zwischen vielen "Hören Se mal" (z.B. S. 139) ist es ihrer Intelligenz und Energie zu verdanken, dass sie selbst dem Spiel der Politiker auf die Schliche kommt.

Zum Lesen des Buches sollte man sich Zeit nehmen, um alle Feinheiten und Spitzen im Schreibstil und in der Geschichte selbst zu erkennen. Dann wird das Buch trotz einiger Längen zu einer empfehlenswerten Lektüre, die über ihren Unterhaltungswert hinaus auch - wieder einmal - Anlass zum Nachdenken über unsere Politiker geben kann.