"Seine Welt war das Eiscafé, meine begann dort, wo die Terrasse aufhörte"

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mazapán Avatar

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Ich habe mich immer gefragt, warum mein italienisches Lieblingseiscafé, das "Eiscafé Venezia", den ganzen Winter lang geschlossen ist. Gegen ein Eis in der kalten Jahreszeit hätte ich nämlich nichts.
Die Antwort auf diese Frage fand ich in dem wunderbaren Roman "Die Eismacher" von dem niederländischen Bestsellerautor Ernest van der Kwast.
Venezia heißt auch das Eiscafé in dem Rotterdamer Stadtzentrum, in dem van der Kwast seine Familiengeschichte spielen lässt. Von morgens bis abends stehen der Eismacher und seine Frau hinter der Theke, immer gut gelaunt, immer geduldig, immer freundlich. Auch wenn in ihren Köpfen und im Hinterzimmer die Konflikte brodeln.

Eis macht glücklich, nicht nur, weil es süß, weich und lecker ist, sondern auch weil die Illusion stimmt. Denn wenn man sein Stück Glück genießt, kommt man nicht auf die Idee zu überlegen, ob dieses Eis möglicherweise das Resultat von viel Arbeit und Aufopferung ist. Man kann es sich nicht einmal vorstellen, dass ein Moment Leichtigkeit nur möglich sein kann, weil andere gerade darauf verzichten.
Ernest van der Kwast erzählt von dem harten Leben einer italienischen Eismacherfamilie im Zentrum Rotterdams, einer Dynastie von Eismachern, die ihren Ursprung Ende des 19. Jahrhunderts hat. Er erzählt, wie Giuseppe Talamini, der Sohn eines Holzfällers aus den Dolomiten, der erste Eismacher der Familie geworden ist. Aus lauter Sehnsucht. Diese Episoden waren für mich die liebenswertesten im ganzen Roman. Van der Kwast erzählt auch, wie Giuseppes Urenkel auch eines Tages Sehnsucht gespürt hat, aber nicht nach Eis, sondern nach Poesie, und wie er sich dafür entschied, kein Eismacher zu werden.

Ja, dieses Buch erzählt von Sehnsüchten. Sehnsucht nach Eis, nach Heimat, die man nur im Winter sehen kann, nach einem Sommer außerhalb des Eiscafés, nach einem anderen Leben. Sogar der Eismachersohn, der seine Poesie-Träume zum Beruf gemacht hat, sehnt sich nach seiner Eismacherfamilie und sorgt auf eine atypische Art und Weise dafür, dass die Bindung zu dieser noch enger wird.
Poesie im bewegten Leben des verlorenen Sohnes, Poesie beim Eismachen. Es gelingt van der Kwast, die ganzen Träume, Konflikte und den Alltag der Romanfiguren so einfühlsam und teilweise so humorvoll darzustellen, dass der Leser diese nicht nur nachvollziehen, sondern ihre Gefühle auch deutlich spüren kann. Er beschreibt zwei Parallelwelten, die allein durch die Eisvitrine getrennt sind.
Eismachen, Kunden bedienen, einen ganzen Sommer im Eiscafé schuftend verbringen versus Lyrik-Festivals überall auf der Welt und Leben in Hotelzimmern. Auch wenn ich viel lieber über den Eismacheralltag in jeder Epoche gelesen habe, mit den liebenswerten und fleißigen Männern und ihren lakonischen Frauen, haben mich manche Passagen im Leben des an die Lyrik verlorenen Sohnes begeistert, wie zum Beispiel die Beschreibung der verschiedenen Poesie-Festivals in den unvorstellbarsten Aufmachungen und exotischen Orten, und die Aufzählung der Besonderheiten und sonderbaren Details in einzelnen Hotelzimmern und - aufzügen.

Dieses Buch ist meine schönste Überraschung des Sommers. So eine ungewöhnliche Kombination von Themen - in diesem Fall Eismachen und Lyrik - kommt nicht oft vor.
Für das Hervorheben der Leistung einer hartarbeitenden Berufsgruppe, von der ich bisher nur profitiert, aber über die ich mir wenig Gedanken gemacht hatte, danke ich van der Kwast. Jedes Mal, wenn ich ein Eis bei Venezia bestelle, werde ich an dieses Buch denken, dieses Eis mit der nötigen Würde essen und mein kurzes süßes Glück noch mehr genießen.