Ich wusste nicht, was Verschweigen langfristig anrichtet.

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maesli Avatar

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Birgit schreibt einen Roman über ihr Leben. Sie schreibt von der Liebe zu Leo und über die Tochter, die sie sofort nach der Geburt weggegeben hat, sie schreibt über ihre Liebe zu Kaspar, ihre Flucht aus der DDR und ihr Leben an der Seite ihres Mannes.

"Ich wusste nicht, was Verschweigen langfristig anrichtet."

Kaspar weiß davon nichts, er erfährt alles erst nach ihrem Tod. So macht er sich auf, die Tochter zu finden. Er erfährt über ihre Geburt, ihre Kindheit, ihre Rebellion und ihr Abtriften bis sie Björn kennenlernt, mit dem sie in einer völkischen Siedlung auf einem Hof lebt. Es ist nicht die Tochter, sondern die Enkeltochter, die ihn annimmt und in ihm die Hoffnung aufblühen lässt, zu ihr eine Beziehung aufbauen zu können, was am Anfang auch zu gelingen scheint.

Meine persönlichen Leseeindrücke
Der Roman ist in 3 Teile gegliedert und fast möchte ich sagen, dass der 1. Teil die Einleitung, der 2. Teil der Hauptteil und der 3. Teil der Schlussteil ist, wie in einem klassischen Schulaufsatz. Im 1. Teil wird die Lebensgeschichte von Birgit erzählt. Schlink überzeugt hier stilsicher und sensibel, sodass mich die Schilderungen zutiefst rührten und bewegten. Er lässt Birgit über ihre Schuld schreiben, die sie auf sich geladen hat und die sie in ihrem unruhigen Leben gefangen hält, das selbst der Alkohol nicht mehr erträglich zu machen scheint.

"Es ist der große Trost in meinem Leben: Was immer ich in meinem Leben nicht bin, was immer ich dir nicht bin – ich bin genug, dass ich bis jetzt von dir geliebt werde."

Im 2. Romanteil findet Kaspar die verstoßene Tochter. Er will zwar versuchen, sich ihr anzubieten, wie es sich Birgit gewünscht aber nicht getraut hat, aber schnell wird klar, dass sie ihn ablehnt.

"… dass Svenja noch nie im Ausland war und auch nicht verstand, was sie dort sollte, dass sie lieber auf der Schwelle eines Waisenhauses abgelegt als Leo und Frau übergeben worden wäre, dass sie aber verstand, warum Paula gehandelt hatte, wie sie gehandelt hatte, dass sie auch Birgit verstand und dass sie froh sein, ihr nicht begegnet und der Entscheidung entgangen zu sein, ob sie ihr eine reinhauen oder sie umarmen oder ihr die kalter Schulter zeigen solle."

Es ist die Enkeltochter Sigrun, die Kaspar in ihr Leben lässt und von der Birgit nichts wusste. Erzogen im Geiste der völkischen Gesinnung kommen ihre Aussagen zum 2. Weltkrieg in erschreckend einleuchtenden, kindgerechten, einfachen Aussagen ans Tageslicht und zeigen eine Realität auf, der Kaspar zaghaft und wenig energisch entgegentritt.

"Er hatte lernen wollen, wie er Sigruns Gedankenwelt weiten und öffnen könnte, und war nicht klüger geworden."

Hier hätte ich doch eine bessere Aufbereitung der Thematik erwartet. Wenn Schlink so ein Thema in einem Buch anspricht, wären ausführlichere Erklärungen des Großvaters an seine Enkelin angebracht. Doch stattdessen wird ein 70jähriger Mann vorgestellt, der zwar belesen und intelligent scheint, der aber mit dieser Konfrontation überfordert ist. Vielmehr entkräftet der Großvater kein Argument, er zögert mit schlagfertigen Gegenargumenten, bringt kein kraftvolles Entgegenhalten zu den vorgebrachten Argumenten vor. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass er erwartet, dass Sigrun als junges heranwachsendes Mädchen von alleine die Unwahrheiten aufdeckt, sich im Geiste wandelt und alles gut wird.
Schlussendlich ist es der 3. Teil, der mich enttäuscht aus dem Roman verabschiedet. Von der völkischen Ideologie gerät Sigrun in den Strudel der rechten Szene. Ein Toter und schlussendlich keine Konsequenz, weil Sigrun sich nach Australien absetzt und ein Großvater, der so stolz auf sie ist, weil sie doch so musikalisch ist. Verantwortung übernehmen und sich für die Aufklärung eines Tötungsdeliktes einsetzen, das kann man nicht verlangen. Es hat fast schon den Anschein, dass Schlink so ein Verhalten billigt.

Fazit
Sprachlich gekonnt geschrieben, verliert die Handlung mit dem 3. Teil definitiv ihre Ausstrahlung. Die Argumente zum 2. Weltkrieg, thematisiert durch das Gedankengut der völkischen Ideologie, die in Sigrun ihr Sprachrohr finden, werden durch den belesenen, intelligenten Großvater nur zaghaft entkräftet. Die Feigheit Sigruns, als es zu einem Tötungsdelikt kommt, und die Unfähigkeit des Großvaters sie zur Räson zu bringen, ist erschreckend. Was übrig bleibt, ist ein schaler Nachgeschmack; eine junge heranwachsende Generation mit falschen Idealen und eine ältere und „weisere“ Generation, die dem kaum entgegentreten kann. Das ist für mich das größte Manko in diesem Roman.