Literarisch anspruchsvolles Werk mit Schwächen

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mirko Avatar

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Dieses Buch zu bewerten fällt mir unheimlich schwer. Es gibt unzählige Aspekte, die mich als Leser beschäftigt haben, was für sich genommen schon einmal gut ist. Aber leider zeigen diese in verschiedene Richtungen. Der Reihe nach…
Der Hanser Verlag stellt hier wieder einmal eine Neuerscheinung vor, die wunderschön ist. Das Titelbild ist hervorragend gewählt, so dass es sich anfühlt, als hätte man ein kleines Kunstwerk in seinen Händen.
Der Roman ist in Melbourne, Australien, angesiedelt und handelt von drei Haupt-Protagonistinnen, die sehr ausführlich in einzelnen Kapiteln der Reihe nach eingeführt werden.
Da ist zum einen die Literaturprofessorin Dr. Margot Pierce, in deren Leben der Beruf immer eine wichtige Rolle gespielt hat. Ihr Ehemann John leidet zunehmend an Demenz, die sich auch in brutalen Übergriffen auf seine Frau äußert. Von ihrem 42-jährigen Sohn Adam hat sie sich entfremdet.
Dann ist da die 22-jährige Studentin Summer, die mit ihrer Freundin April zusammenlebt und sich große Sorgen um diese macht, da sie von einem sich ausbreitenden Waldbrand bedroht ist. Summer ist vom fortschreitenden Klimawandel traumatisiert und kämpft mit einer Reihe weiterer psychischer Probleme.
Die dritte Hauptfigur ist die vermögende Kunstmäzenin Ivy, die ihr erstes Kind durch Kindstod verloren hat und nach und nach wieder im Leben Tritt fasst.
Die Informationen zu den drei Charakteren liefert Thomas sukzessive. Sie lässt den Leser teilhaben an deren Gedanken, woraus sich ein zunehmend klareres Bild ergibt, ohne dass dieses jemals vollständig werden wird. Diesen Anspruch erhebt die Autorin sicher auch nicht.
Den Handlungsrahmen bildet ein Samuel-Beckett-Stück (Glückliche Tage), welches die Gedanken von Margot, Summer und Ivy immer wieder befeuert und in andere Richtungen lenkt. Das ist von literarisch außergewöhnlicher Qualität und gipfelt im Mittelteil, der Pause. Hier legt Thomas ein eigenes Kapitel vor, das in Form eines Theaterstücks geschrieben ist. In diesem Kapitel werden die drei Hauptfiguren zusammengeführt. Es kommt zu verschiedenen Begegnungen, welche Einfluss nehmen auf das weitere Geschehen.
Das alles wird in einem ruhigen Erzählfluss wiedergegeben. Ich war interessiert, was weiter passieren würde, ohne die Erwartungen zu hoch zu schrauben. Denn es handelt sich nicht um einen effektgeladenen Roman, sondern vielmehr um intensive Charkterstudien, die immer neue Dinge preisgeben, dabei aber auch immer neue Fragen aufwerfen.
Was Claire Thomas dabei leider nicht gelingt, ist dem Leser die Figuren auch auf einer Gefühlsebene näher zu bringen. Trotz diverser Schicksalsschläge, die in die Handlung verwoben wurden, liest man es eher nüchtern und objektiv. Aber gerade die Nähe zu einer Romanfigur wäre hier das wesentliche Element gewesen, woraus dann womöglich ein ganz großer Roman geworden wäre.
Das liegt aus meiner Sicht auch an der Tatsache, dass die Autorin die mit gut 250 Seiten eher kurze Erzählung thematisch überfrachtet hat. Klimawandel, sexuelle Orientierung, Kindstod, Demenz, Entfremdung von den eigenen Kindern, würdeloses Altern, Identifikation mit der eigenen Herkunft, Aufwachsen ohne Eltern etc. All dies und noch viel mehr wird in dem Buch behandelt. Und das ist einfach zu viel, um die losen Fäden zu einem großen Ganzen zusammenführen zu können.
Das ist unglaublich schade, da Thomas` literarische Kraft zweifellos vorhanden ist. Hier wäre weniger mehr gewesen. Und sich diesen Themen deutlich umfassender anzunähern, hätte zum Erzähltempo hervorragend gepasst. So ist es zwar keine verpasste Chance, aber ein etwas unbefriedigendes Leseerlebnis. Ich würde auf jeden Fall einen weiteren Roman der Autorin lesen, die noch am Anfang ihrer Autorinnenkarriere steht und der ich in Zukunft definitiv noch große Bücher zutraue.