Geschichte einer Frau, die unbeirrt ihren Weg gehen wollte.

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wedma Avatar

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Aganetha Smarts Lebensgeschichte kann damals wie heute als nicht konventionell gelten.
Es ist Geschichte einer jungen Frau aus einfachen Verhältnissen, die kaum Selbstinszenierung und Eitelkeit von Kindesbeinen an in ihrer Bauernfamilie gelernt hat, was für ein dauerhaft erfolgreiches Leben in der Öffentlichkeit als It-girl nach ihrem ersten großen Erfolg nötig gewesen wäre.

Die Handlung ist auf zwei Ebenen angesiedelt. Den größten Teil des Romans, schätzungsweise 4/5, nimmt die Geschichte von der jungen Aganetha Smart und ihrer Familie in der Vergangenheit. Im Grunde besteht der Roman aus Rückblenden, die hin und wieder durch Szenen in der Gegenwart durchwirkt sind, und erklären, wie es zu der Situation gekommen ist, die man im Heute präsentiert bekommt. 
Man trifft die 104-jährige Miss Smart im Pflegeheim. Sie wirkt sympathisch: humorig, leicht bissig, eine geübte Beobachterin, die das Handeln der Menschen aufgrund ihrer Lebenserfahrung gut einschätzen kann und ihre Meinung dem Leser unvermittelt liefert. Ihre philosophischen Ausführungen zum Thema Lüge beispielsweise sind schon recht spannend und zeugen von ihrem klaren Verstand und ihrer profunden Menschenkenntnis. 

Eines Tages wird sie von zwei jungen Menschen abgeholt, die einen Film über sie drehen wollen. Lange versteht man nicht so recht, warum sie das tun wollen, denn der Grund, der anfangs genannt wird, kommt einem recht fadenscheinig vor. Aganethas großer Erfolg liegt bereits über 80 Jahre zurück. Erst zum Schlusss eröffnet sich das "große Geheimnis".

Die Rückblenden sind sehr schön und bildhaft geschrieben. Man fühlt sich in die damalige Zeit versetzt, Aggie war 1908 geboren, und hat keine Probleme die Welt mit den Augen der anfangs 9-Jährigen Aggie zu sehen. Der Besuch der Gräber am Friedhof zusammen mit der 22-jährigen Halbschwester wirkt schon fast poetisch und erzählt eine traurige Familiengeschichte. Vor dem Text gibt es übrigens einen Genealogiebaum der Familie Smart, der sich als sehr hilfreich bei den Ausführungen der Familienverhältnisse erweist.

Der Erzählstrang in der Gegenwart ist in Ich-Form verfasst. Das passt sehr gut, schafft so eine Nähe zu der 104-Jährigen Miss Smart, dass man ihr alles abnehmen kann. Auch dass ihre Erinnerungen rein assoziativ und ganz plötzlich einsetzen, nicht immer chronologisch, und erzählen die eine oder andere Episode aus ihrem Leben als junge und später 40-Jährige Frau. Man begleitet Aggie bei ihrem Lauftraining, beim neuen Leben in der Stadt und bei ihrem großen Erfolg. 
Es wird einem auch glasklar, was es heißt, so alt zu werden, welche psychische Belastung es ist, alle verloren zu haben, die man je geliebt hat, und welche physische Belastung man sich selbst und den Pflegern ist, i.e. man ist ständig auf fremde Hilfe angewiesen, selbst beim Teetrinken, denn der Körper macht nicht mehr viel mit. Rollstuhl ist die gängige Möglichkeit der Fortbewegung, am besten wenn jemand diesen rollt.

Das Laufen als Prozess, als Form des Daseins samt all den Empfindungen dabei, ist sehr plastisch beschrieben. Da gibt es an mehreren Stellen schöne Zeilen dazu, sodass man die Laufschuhe festschnüren und selbst gleich loslaufen will. "Ich finde nicht in meinen Körper; es ist ein einziger Kampf. Ich treibe haltlos dahin Treibe dem Verschwinden entgegen.
Außer beim Laufen. Wenn ich laufe, bin ich zugleich in meinem Körper und außerhalb. Ich spüre diese extremsten körperlichen Anstrengungen, während ich gleichzeitig völlig frei fühle, als flöge ich auf und davon. Ich will ich nicht daran erinnern, was mir passiert ist. Ich will nicht über die Vergangenheit nachdenken. Ich kann es in gewisser Weise gar nicht. Ich bin für Reue nicht geschaffen." S. 269.

Besonders die Freundschaft von Aggie und Glad, ihrer Mitstreiterin auf der Laufbahn und später auch in anderen Bereichen des jungen Lebens, hat einen großen Raum eingenommen. Diese Freundschaft zweier Rivalinnen ist psychologisch tief und einfühlsam dargelegt worden, wobei es nie ins Pathetische rutscht und eher bei nüchternen Darstellungen bleibt. Der Kontrast der Persönlichkeiten lässt Aggies Charakter umso deutlicher erscheinen und stimmt nachdenklich. Man fragt sich, lautet die Botschaft in etwa: Nicht der/die technisch, fachlich Bessere auf lange Sicht gewinnt, sondern der/diejenige, der/die mehr soziale Kompetenz wie Hartnäckigkeit und Ausdauer an den Tag legt? Und/oder auch: Wenn jemand nicht von der Persöhnlichkeit her es mitbringt, der kann nicht dauerhaft erfolgreich bleiben, zumindest in dem Sinne, wie die breite Masse den Begriff Erfolg begreift?

Auch Fragen der Identität und der Treue zu sich selbst sind eingehend an Aggies Beispiel/Ausführungen behandelt worden.  Mir schwant, Aggies Geschichte ist auch eine Art Studie zum Thema, was passiert, wenn jemanden, der gar nicht auf viel Aufmerksamkeit vorbereitet ist und sonst keine Lust hat im Trubel der Eitelkeiten mitzuspielen, der große Erfolgt trifft.

Auch Themen wie Leben, Sterben, ein Kind zur Welt bringen, Familienleben, Verantwortung, Freundschaft, Liebe, Erfolg sind ein fester Bestandteil dieses Romans und sind auf eine nicht-triviale Art und Weise dargeboten worden.

Frauendiskriminierung und Frauenausbeutung ist hier auch ein Thema, das in diesem Roman insb. im letzten Drittel deutlich wird. Im Nachwort liest man: "Nur damit niemand glaubt, Diskriminierung im Laufsport gäbe es heute nicht mehr: im Jahr 2011 verfügte der Weltleichtathletikverband, dass offizielle Rekorde von Frauen nur in reinen Frauen-Laufwettkämpfen aufgestellt werden können. Damit soll verhindert werden, dass Frauen mit schnelleren Tempomachern laufen ...Durch die neue Regelung wurden zuvor von Frauen in gemischten Laufwettkämpfen aufgestellte Rekorde ungültig."S. 346.
Nach der Sportkarriere muss Aggie ihren Platz in der Redaktion räumen: "Der unausgesprochene Grund ist das Jahr: 1945. Das Kriegsende und damit die Menge tapferer junger Männer, die nach Hause kommen und ihre Stellen von Frauen wie mir besetzt finden. Sollte ich da nicht schleunigst das Richtige tun und beiseitetreten, um einem Ernährer Platz zu machen? Ich kann noch von Glück sagen, dass man mich nicht einfach vor die Tür setzt. Auf die ich jetzt zumarschiere, Schaum vorm Mund. Ich muss dringend laufen gehen." S. 289. 
Auch das Bild von Aggies Mutter, die als Heilpraktikerin und Hebamme im Dorf tätig ist, liefert Beispiele dafür. Zu ihr kommen oft genug Mädchen, die sich von den Männerversprechungen leiten ließen und nun doch nicht geehlicht wurden.

"Ich habe nachgedacht über den Erfolg, Miss Gibb. Was macht ...eine große Sportlerin aus?"S. 297. Das scheint die Frage zu sein, auf deren Antwort Aggies Sportkarriere hinausläuft. Wohl kaum nur das Talent, die schnellen Beine, die Physis. Bei den Zutaten ist das Wichtigste nicht dabei, auch hier nocht: "Irgendwie ging es nie weg - das Verlangen zu konkurrieren, gegen andere anzutreten, zu gewinnen oder zu verlieren, Teil eines Rhythmus zu sein, der größer ist als ich. Eines ganzen Felds von Anstrengung und Verausgabung." S 309.

Die Geschichte hat auch eine zutiefst tragische Seite, wenn man an Tattie, Aggies Schwägerin, denkt. Da taucht die Frage auf: wie viel Unheil, dass man nie wieder gutmachen kann, durch menschliche Kälte und Gleichgültigkeit entsteht.

Die Überraschung zum Schluss kommt nicht zu kurz, wobei es sehr nah an Leser-hinters-Licht-führen kommt. Einige Seiten zuvor wurde in diesem Zusammenhang etwas ganz anderes erklärt, was falschen Schluss ziehen lässt.

Was ich weniger gut fand:
Die Infoversorgung erschien mir mancherorts suboptimal: Der 104-jährige Aggie wird erzählt, was sie schon weiß und zuvor ihre Meinung dazu abgegeben hat.
Die Handlung in der Gegenwart ist recht begrenzt.
Der Spannungsbogen konnte nicht überall aufrechterhalten werden. Einige Durchhänger ließen mich das Buch beiseitelegen.

Sonst ist der Schluss ist sehr gut: stimmig, atmosphärisch, berührend.

Fazit: Ein gelungener Roman über eine Frau, die konsequent ihren Weg ging.