Ein spannender Blick ins Mittelalter

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
buchgespenst Avatar

Von

Antwerpen war einst eine blühende Handelsmetropole und vielen Kirchen, religiöser Toleranz und unglaublicher gesellschaftlicher Vielfalt. Gemälde und schriftliche Zeugnisse, die heute allgemein bekannt sind, geben ein nur ungenaues Bild vom Leben der Menschen Ende des 15./ Anfang des 16. Jahrhunderts wider, schon weil diese Zeugnisse oft erheblich jünger sind. Wendy Wauters nimmt den Leser mit und lässt ihn eintauchen in diese Welt, die einst Gegenwart war und heute so fern erscheint. Doch dann rückt uns das Leben der Menschen wieder ganz nah, denn immer wieder schlägt Wauters Brücken ins 19., 20. Und auch 21. Jahrhundert. Nicht von ungefähr werden Pest- und Corona-Zeiten miteinander verglichen und zeigen verblüffende Parallelen. Damit erscheint uns das Mittelalter trotz aller Fremdheit plötzlich sehr vertraut.

Anhand der Kathedrale von Antwerpen wird hier ein komplexes und in vielerlei Hinsicht sehr plastisches Bild der spezifischen niederländischen Handelsmetropole, aber auch der der Geschichte der Gesellschaft, politischen Ereignisse, Religiosität und der beindruckenden, komplexen Nutzung und Veränderung des Verständnisses von Kirchengebäuden. Das Leitmotiv, das den Leser durch das Buch führt ist der Geruch. Und ja, das bedeutet alles, was man sich darunter vorstellt: wie rochen die Menschen, die Straßen, die Kirchen? Welche Rolle spielte der Geruch im Alltag, im Selbstverständnis und im Glauben?

Ein umfassender, farbiger Bildteil, auf den im Text immer wieder Bezug genommen wird, illustriert die lebendig präsentierte Geschichte. Besonders interessant sind die Erläuterungen zu den Gemälden, die zeigen, dass Kirchen damals viel komplexer genutzt wurden als man heute annehmen würde.

Dieses Sachbuch lässt das Mittelalter auf vielerlei Arten lebendig werden. Ein durchaus anspruchsvolles Sachbuch, das es versteht, den Leser die Geschichte hautnah erleben zu lassen. Man steht neben der Hausfrau und dem Händler in der Kirche, umweht von Körpergerüchen, müffelnder Kleidung, Parfüms, Weihrauch und ausgestreuten Kräutern – von der Straße kommt der Duft von Pferden und Kot herein – ein stetes Kommen und Gehen von Händlern, Bettlern und Pilgern – man ist als Leser mittendrin.

Ein großartiges Sachbuch, das das Mittelalter lebendig macht!