Lebendige Kunstgeschichte!

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Wendy Wauters Buch zieht den Leser schon mit dem prächtigen Cover in seinen Bann: Das Gemälde von Hendrik van Steenwycks d.Ä. und Jan Brueghel d.Ä zeigt den lebendigen mittelalterlichen Alltag in Antwerpens großer Liebfrauenkathedrale und gibt einen Vorgeschmack auf den Inhalt des Buches.
Doch zuerst fasst Wendy Waters die wichtigsten historischen Daten zusammen und zeigt auf, wie geographische und politische Bedingungen zusammen Antwerpens zentrale Stellung begründeten.

Danach widmet sie sich ihrem eigentlichen Anliegen, ein lebendiges und anschauliches Bild des Lebens in der damaligen Zeit zu vermitteln. So erfahren wir staunenden Leser, wie politische Macht und monetäre Möglichkeiten buchstäblich über den Platz in der Kirche entschieden, wie geschäftliche Interessen die Bestattungskultur prägten und welche Rolle sogar hygienische Bedingungen bei der Ausgestaltung ritueller Bräuche spielten. Es ist faszinierend, die Auswirkungen bis in die heutige Liturgie zu beobachten.
Auf der Basis ihrer Dissertation über die Lebenswelt mittelalterlicher Kirchgänger vermag Wendy Wauter alles kunsthistorisch zu belegen, und so zeigt sie auf handverlesenen Abbildungen, wie die Maler der Zeit am Rand ihrer (meist religiösen) zentralen Motive auch den Alltag mit dokumentierten. Anhand der ausführlichen Bibliographie kann der interessierte Leser noch tiefer ins Thema einsteigen.

Der Autorin gelingt es, die ‚toten Steine‘ zum Reden zu bringen, und ich werde mir beim nächsten Besuch einer mittelalterlichen Kathedrale viel besser vorstellen können, weshalb dort alle Nebenaltäre ihre eigene Geschichte erzählen, und die andächtige Stille keineswegs selbstverständlich ist. Beim Läuten der Altarschellen werden die Gläubigen vor meinem geistigen Auge durch die Kirche rennen, um jeder Elevation beiwohnen zu können, und bei der Predigt werde ich daran denken, wie manche Prediger damals Pop-Star-Status hatten. In den leeren Kirchen der Gegenwart ist dies kaum mehr vorstellbar, und daher ist das Buch von Wendy Wauters umso wichtiger.