Mit Weihrauch gegen den Hauch des Todes

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babsiemarie Avatar

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Dieses Buch möchte ich jedem in die Hand drücken, der sagt, Geschichte sei langweilig. Denn es beweist, wie klug, spannend und aufschlussreich sich Geschichte in Geschichten erzählen lässt. Die belgische Kunsthistorikerin Wendy Wauters führt ihre Leser durch den Alltag der Handelsmetropole Antwerpen im 16. Jahrhundert. Als Ausgangspunkt wählt sie die überragende Liebfrauenkathedrale im historischen Zentrum. Das Cover, ein Ausschnitt aus einem historischen Gemälde vom Kircheninneren, zieht ins Buch hinein – aufgrund seiner perspektivischen Darstellung entlang immer kleiner werdenden Säulen und Altäre. In der Kathedrale hören wir Messfeiern, Glockengeläut und Gedränge, es geht zu Fastnachtsumzügen und Wallfahrten, wir leiden mit Pestkranken und schulen unsere Sinne. Vor allem den Geruchssinn.
Denn „Die Gerüche der Kathedrale“ bilden den roten Faden, an dem Wauters eine Vielzahl von geschichtlichen, kunsthistorischen, politischen und wirtschaftlichen Einzelheiten aufhängt. So wird ihr Buch eine breit gefächerte Schautafel des 16. Jahrhunderts – ähnlich dem figurenreichen Gewimmel von Pieter Bruegel dem Älteren. Wiederholt bezieht sich Wauters auf dessen Gemälde „Kampf zwischen Karneval und Fasten“ vor den Pforten einer Kathedrale.
Zu Beginn jedes Kapitels stellt die Autorin ihre Leser mitten in eine historische Situation: in die Hauptmesse, in eine Kerzenprozession oder in die Feier „rund um die Heilige Vorhaut“. Und immer wieder begegnet man der Geißel jener Zeit, der Pest. Altäre, die Pestheiligen wie Rochus und Sebastian geweiht, waren, „schossen wie Pilze aus dem Boden“. Im Kapitel „Gestank des Todes“ erleben wir Begräbnisse innerhalb der Kathedrale. Sie fanden, wie Wauters berichtet, bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein regelmäßig statt – und sorgten für einen den gesamten Kirchenraum durchdringenden Leichengeruch. Von diesem ausgehend spannt Wauters ihren Erzählfaden zu den engen Beziehungen zwischen Lebenden und Toten, zum Einsatz von Gegengerüchen (Weihrauch!) und dem Einfluss des Kirchenstandorts auf die „Geruchsmischung im Inneren“.
Für einen reibungslosen Lesefluss sorgt Wauters rhythmische Balance zwischen knappen Sätzen – „Europa hielt den Atem an“ – und längeren, aber klar strukturieren Konstruktionen. Die Autorin nutzt sinnliche Eindrücke wie Gerüche, Farben und Texturen, um das Geschehen anschaulich zu machen: die Kälte klirrt, Pilger sind verschwitzt und verstaubt, Betende halten sich die Nase ob Leichengestanks zu. Und das Querhaus der Kathedrale mit seinen zirkulierenden Menschenströmen bezeichnet sie treffend als „innerkirchliche Verkehrsader“. Wauters bleibt nah am Tun der Menschen: Sie stellt den „hypochondrisch veranlagten“ Humanisten Erasmus von Rotterdam vor, der dem Geruch von Taufwasser ebenso misstraute wie üble Gerüche. Sie erzählt die Legende von der „auslaufenden Nonne von Oirschot“, einer Karmelitin namens Maria Margaretha van Valckenisse, die verfügte, ihr Leichenwasser solle dazu verwendet werden, das Ewige Licht in ihrem Kloster zu speisen. Sie beschreibt plastisch die Folgen einer Vielzahl von Altären in der großen Kathedrale: „Wenn in einer Kirche mehrere Messen gleichzeitig gefeiert wurden, konnte [das] schnell zu einem störenden Hin-und-her-Gerenne führen.“
Viele Eindrücke, die man aus Wauters Buch gewinnt, sind gar nicht immer so weit von unseren heutigen Erfahrungen entfernt. Einzelhändler beschweren sich über „enormen Leistungsdruck“ und „schon im 16. Jahrhundert war die Klage zu hören, dass früher alles besser gewesen sei“. Wer noch Kirchgänger ist, wird vielleicht dem ersten Satz des Kapitels „Pssst!“ zustimmen: „Es war allerdings nicht immer leicht, sich voll und ganz auf eine Messfeier zu konzentrieren.“ Die Liebfrauenkirche sei, so erzählt Wauters weiter, ein „lebhafter Ort“ gewesen: Totengräber, Hausierer, Touristen, Bürger auf dem Weg zum Gottesdienst wuselten umeinander durch die Kirchenschiffe. Das habe dem Hochchor den Spitznamen „Taubenschlag“ eingebracht.