Politisch korrekte Quasselstrippe

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**"Der ist ja wohl och nicht von hier" mosert Marc-Uwe Klings Nachbarin vor sich hin, als sie den neuen Mieter in Treppenhaus trifft. Der Neue ist ein Känguru. Er nistet sich im Leben des Erzählers ein, indem er erst ein Ei für Eierkuchen leihen will, dann Salz, Milch und Mehl, um schließlich – voll der Schmarotzer - ganz bei ihm einzuziehen. Das Känguru erweist sich als neunmalkluge politisch korrekte Quasselstrippe, die sofort nach dem Einzug das Einkaufs-, Ess- und Wahlverhalten seines leicht schlafmützigen Gastgebers analysiert. Alles ist Hähnchen, Fischstäbchen sind Hähnchen, nur Chicken Nuggets sind Tofu, das weiß doch wohl jeder. Sodann richtet das eloquente Beuteltier als Existenzgründer eine 0900-Nummer ein, mit der es sich zukünftig eine goldene Nase verdienen will. Im Vergleich zum umtriebigen Kleinunternehmer Känguru sieht der Erzähler im Schlafanzug, der "irgendwie Künstler" zu sein scheint, doch recht alt aus. Der Hauptmieter, politisch offenbar ein unbeschriebenes Blatt, muss seinen tierischen Besatzer nicht nur bekochen, er wird nun zur Zielscheibe abgegriffener Worthülsen des Sozialismus und sieht sich dem ausgeprägten Antiamerikanismus seines WG-Partners ausgesetzt. Der australische Gastarbeiter ist nicht nur EU-Kritiker, Feminist und Verkehrs-Anarcho, er lästert sogar ungestraft über den zur Springer-Gruppe gehörenden Ullstein-Verlag ab. Das Känguru ist Gründungsmitglieds des Vereins für eine„Jüdisch-Bolschewistische Weltverschwörung für eine gerechte Weltordnung, für Brot für alle und für die Ächtung von sogenanntem Musikfernsehen e.V.“, der vermutlich unter vollkommener Geheimhaltung den Kapitalismus abzuschaffen gedenkt. Dass eine gepflegte Runde Monopoly-Spielen die Mann-Tier-WG in eine tiefe grundsätzliche Krise stürzt, wundert nicht. Känguru fordert Wasser, Elektrizität und möglichst auch Bahnfahrten kostenlos für alle Monopoly-Spieler und Mietfreiheit für Haubesetzer der Villen in den teuren Straßen des Spiels. Im Bereich der raffinierten Nutzung neuer Medien und auch an Muskelkraft ist das Känguru der Zielperson seiner absurden Schachzüge klar überlegen, seine einzige Schwäche sind Schnapspralinen. "Ich will gar nichts sagen, ich gebe nur Denkanstöße" ist Kängurus Devise. Zurückhaltend im Umgang mit persönlichen Daten und auffällig kritisch gegenüber den Tücken eines amazon-Wunschzettels zeigt sich unser Känguru als geschickter Profiteur der modernen Mediengesellschaft.**

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**Marc-Uwe Kling wirft in seinen teils sehr kurzen Geschichten die Schlagworte unter die Leser, amüsieren muss man sich selbst. Als Beuteltier bietet das Känguru an sich unbegrenzte Möglichkeiten zum Ablachen, sei es bei der Taschenkontrolle, beim SMSen, beim Diebstahl diverser Alltagsgegenstände oder bei der Begegnung mit einem Polizisten, der als einziger im ganzen Buch nichts an den Augen zu haben scheint und Kling fragt: "Ist das Ihr Känguru?" Im Zeitalter ostalgischen Jammerns liefert die Symbolik eines Tieres mit sozialistischer Vergangenheit, das auf seinen kräftigen Hinterbeinen nur vorwärts hüpfen kann, Stoff für  Glossen aller Art. ACHTUNG: Das Känguru hasst Hunde, Beschwerden wegen hundefeindlichen Verhaltens der Hauptfigur werden vom Rezensenten nicht entgegengenommen! Marc-Uwe Kling liefert mit seinen Känguru-Chroniken gepflegten Nonsense von Zum-Schreien-komisch bis Nicht-komisch, den man zur optimalen Wirkung in kleinen Mengen konsumieren sollte.**