Debattenroman unserer Zeit

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missmarie Avatar

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Was passiert mit den Kinderstars auf Social Media, wenn sie erwachsen sind? Dieser Frage geht Delphine de Vigan in ihrem dystopischen Roman auf beklemmende Weise auf den Grund.

Zum Inhalt:
Mélanies großer Traum, als Reality-Star Erfolg zu haben, erfüllt sich nicht. Nach ihren sprichwörtlichen fünf Minuten Ruhm scheidet sie aus der Fernsehshow aus. Doch zum Glück gewinnen Facebook, Instagram und YouTube in den kommenden Jahren an Bekanntheit und bieten Mélanie eine zweite Chance. Unter dem Titel "Happy Récré" (dt. glückliche Pause) zeigt Mélanie ihr Familienleben mit den Kindern Sammy und Kimmy. Jede Minute im Leben der Kleinen wird werbewirksam auf Social Media Plattformen veröffentlicht. Das beschert Mélanie nicht nur die gewünschte Bekanntheit (der Kanal zählt schnell zu den Beliebtesten in Frankreich), sondern auch einige Werbeeinnahmen. Doch dann verschwindet Kimmy plötzlich beim Versteckenspielen. Geht es um Erpressung? Ist ein Pädophiler auf das Kind aufmerksam geworden? Oder steckt doch etwas ganz anderes hinter dem Verschwinden des kleinen, blonden Mädchens?

Meine Meinung:
Delphine de Vigane legt den Finger in die Wunder der Familien-Influencer. Ihr Roman stößt eine Diskussion an, die im Moment noch viel zu selten und viel zu leise geführt wird: Wer schützt die Rechte von Kindern, die als Influencer arbeiten? Wer achtet auf ihre Gesundheit, ihre Persönlichkeitsrechte, wenn die gesamte Freizeit, die ganze Wohnung zum Drehort wird? Mich hat de Vigane damit zum Nachdenken bewegt. Mir gefällt daran besonders gut, dass die Autorin eine klare Meinung transportiert, ohne das Social Web insgesamt zu verteufeln. Diese schmale Gratwanderung gelingt vielen Medienpädagogen nicht. Obwohl der Leser Sammy und Kimmy nur durch die Videos (bzw. durch Protokolle von Videobeobachtung einer Polizistin, die immer wieder in den Fließtext eingebunden werden), habe ich große Empathie für das Schicksal der beiden entwickelt. Vor allem diese Nähe zu den Figuren half mir dabei, zwischen den vielen guten und schlechten Aspekten zu differenzieren. Dennoch bleibt es ein gelungener, spannender Roman - mit allen Zutaten für ein gutes Debattenbuch.

Bei aller Begeisterung für den Text sehe ich aber auch den ein oder anderen Kritikpunkt: Viele Ideen werden nur schwach ausgeführt, Potential verschenkt. So wächst die Polizistin bei Eltern auf, die sich gegen das Reality-TV stellen. Im weiteren Verlauf der Handlung spielt das aber kaum eine Rolle. Im hinteren Teil des Romans springen wir außerdem in die Zukunft. Was dann mit den verschiedenen Figuren passiert ist - quasi das Gedankenexperiment zu den Folgen von Social Media - hat mich ganz besonders interessiert. Dieser Teil ist aber eher kurz gehalten und die Ideen sind eher grob skizziert als ausgearbeitet.
Auch die dichte Sprache, die ich sonst von de Vigan kenne, ist hier etwas schwächer ausgeprägt.

Mein Fazit:
Ein tolles Buch mit dem Zeug zum Debattenroman. Unterhaltsam und spannend!