Herzzerreißend und erschreckend - Social Media, Konsum und unsere Gesellschaft

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frischelandluft Avatar

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Der Horror, wenn das kleine Kind nicht vom Spielen nachhause kommt, sondern einfach verschwindet. Die Agonie und das Kopfkino, was passiert sein könnte. Das alles potenziert dadurch, dass alles vor der Öffentlichkeit, nicht nur der anwesenden, sondern auch vor der virtuellen Riesengemeinschaft der Social Media passiert, denn das Mädchen und ihr Bruder sind in Vlogs und auf Instagram aufgewachsen, ohne Privatsphäre, kontinuierlich vor dem Auge eines jeden, der sie sehen wollte, perfektioniert von ihrer Mutter, davon lebte die ganze Familie und das finanziell äußerst gut. Das Unfassbare lässt die Zuschauerzahlen in den Social Media in die Höhe schnellen. Aus der Katastrophe wird noch mehr Geld.
Das Internet hätte so viel Gutes bewirken können, doch wir nutzen es hauptsächlich für Shopping und Voyeurismus. Konsum und Skandal, Brot und Spiele. Wir fragen uns sicher oft, wen eigentlich das ganze Geschwätz der Influencer interessiert, aber wir übersehen damit eine Parallelwelt, die wächst und immer mehr Wirkung auf „unsere“ Welt zeigt. Und hier setzt das Buch von de Vigan an.
Ein süßes Mädchen verschwindet, wird entführt, die Polizei ermittelt. Ein klassischer Krimi? Nicht ganz. Die Mutter des Mädchens vermarktet systematisch und äußerst erfolgreich ihre ganze Familie, insbesondere ihre Kinder. Ihr gegenüber gestellt wird die ermittelnde Polizistin, die plötzlich vor der real gewordenen virtuellen Welt der Social Media und Reality Shows steht. Die oberflächlich niedlichen Bilder und Filmchen entpuppen sich als reine Verkaufskampagnien und Kinderausbeutung. De Vigan hat sich wieder ein komplexes psychologisches und gesellschaftliches Thema ausgesucht und in eine spannende, mitreißende und gleichzeitig informative Geschichte verpackt. Toll, wie diese Frau erzählen kann. Der Fokus, aus dem die Geschichte erzählt wird, wechselt. Mal ist es mehr die Sicht der Mutter, mal die der Polizistin. Die Erzählerin wertet nicht, aber die Mutter und die Polizistin vertreten klar konträre Positionen. Die Persönlichkeiten der beiden Frauen erklären sich durch ihre jeweilige Herkunft, wie sie aufwuchsen, welche Entscheidungen sie in ihrem Leben trafen. Dabei hat auch die Mutter, die ihre Kinder dazu benutzt, um über das Anhäufen von Likes und Reaktionen der Abonnenten „Liebe“ zu erfahren, sympathische oder zumindest mitleiderheischende Züge. Und auch die Polizistin ist nicht perfekt und jenseits von Kritik, sie ist eine in sich zurückgezogene Eigenbrötlerin mit eigenen Problemen, die sich hinter Pingeligkeit und Überpräzision versteckt. Wir stehen mit ihr vor diesem Verbrechen, das sich teils in der „realen Welt“, teils im „virtuellen Raum“ abspielt: „Es ist eine Welt, deren Existenz unsere Vorstellungskraft übersteigt.“ Je mehr wir in die Details und Hintergründe eintauchen, desto mehr wird klar, dass es nicht zwei Welten sind, auch keine Parallelwelten, sondern dass die ganze dysfunktionale Emotionalität der virtuellen Welt längst Teil der realen Welt ist. Die Erkenntnis, über das, was da alles abläuft und wieviel Ballast das erzeugt, werden zum Hauptthema der Geschichte, die tatsächliche Entführung tritt in den Hintergrund ohne einen Funken an Spannung zu verlieren.
Im zweiten Teil macht die Geschichte einen Sprung 12 Jahre in die Zukunft. Zunächst dachte ich, oh nein, schon wieder eine Dystopie. Doch ist erstens der Zeitsprung nicht so groß und zweitens wird die Geschichte in direkter Folge aus dem ersten Teil logisch weiter erzählt. Die Kinder sind jetzt junge Erwachsene. Das Mädchen wird immer noch von der Polizistin ein „junges Mädchen“ genannt, was ich entweder falsch übersetzt oder befremdlich finde, auch dramaturgisch nicht zutreffend. Es ist eine Dystopie, aber so real nachvollziehbar, dass einem beim Lesen die Luft weg bleibt. Wir wollen am Ende nur das Stoppschild hochreißen, die Stecker aus den Steckdosen ziehen, die Router und die mobilen Daten ausschalten und vor allem den Jugendlichen neben Erebos auch dieses Buch als Pflichtlektüre empfehlen, ich denke ab 13-14 Jahren. Und den Eltern am besten gleich mit.
Totale Leseempfehlung!