Ich weiß nicht: Fehlte mir etwas, oder war es mir etwas zu viel?

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"Sie braucht diese Stille. Woraus sie bestehen könnte, weiß sie nicht, sie lebt schon so lange in dem Lärm, den sie selbst erzeugen muss, um die, die sie lieben, zufriedenzustellen."

Mélanie ist mit ihrem Traum, Reality-Show-Darstellerin zu werden, gescheitert. Sie heiratet, bekommt Kinder, und weiß nicht recht etwas mit sich anzufangen. Bis sie darauf aufmerksam wird, dass auch Kinder schon zu Influencer*innen werden können - wenn man sie dazu macht. Und so fokussiert sie ihr ganzes Dasein und das ihrer Familie auf die Videos, Stories und Fotos von ihren Kindern Sammy und Kimmy. Bis Kimmy eines Tages nicht mehr vom Spielplatz zurückkommt. Millionen Menschen haben täglich Kimmys Leben verfolgt, wussten wie sie aussieht und wo sie wohnt. Wie findet man in einer solchen Welt den Entführer?

Mit ihrem unvergleichlichen Stil hat sich De Vigan einem Thema angenommen, das bisher höchstens in einer Zeitungskolumne aufgetaucht ist: Dem Schicksal von Kindern, die durch ihre Eltern ständig in den sozialen Medien exponiert sind. Sie schreibt über die Vereinsamung dieser Kinder, über ihre Ausgelaugtheit, ihren sich anbahnenden Widerstand. Wer möchte schon vom Aufstehen bis zum Schlafengehen gefilmt und fotografiert werden? Wer will sich wirklich von Followern auf Instagram vorschreiben lassen, welche Schuhe er/sie zu kaufen hat? Diesem Wahnsinn sind die Kinder tagtäglich ausgesetzt und haben keine Chance, ihm zu entkommen.

In dieser Hinsicht ist Mélanie die wohl problematischste Figur in der Geschichte. Ihr eigener Wunsch nach Ruhm hat sich nie erfüllt, und so missbraucht sie ihre Kinder als eine Art Verlängerung ihrer selbst, um diese Lücke zu füllen. Wenn sie über die spricht, die sie lieben, dann meint sie damit nie ihre Familie, sondern immer nur die Follower. De Vigans Bemühungen, Mélanie als traurige, einsame und gescheiterte Frau zu porträtieren, die nach Liebe und Anerkennung lechzt, und somit Verständnis für sie zu generieren, gelingt in meinen Augen allerdings nur bedingt. Man merkt, dass die Autorin mit ihrer eigenen Figur hadert, dass sie diesem Verhalten nichts Verständnisvolles abgewinnen kann, und so wirken diese Relativierungsbemühungen stark konstruiert. Mélanie ist ätzend, unbelehrbar und so naiv, dass es an Dummheit grenzt. Bei mir sind alle Mediationsversuche gescheitert, ich konnte Mélanie einfach nicht verstehen und ihr auch nicht vergeben.

De Vigan erzeugt einen ungemeinen Sog mit ihrer Geschichte, die modular aufgebaut ist und in der sich die Sicht Mélanies und der Ermittlerin Clara abwechseln. Polizeiliche Dokumente und Berichte sind zwischengeschaltet und eröffnen etliche Perspektiven auf das Thema - von anderen Influencern, Kritikern aus dem Bereich Kinderschutz, den Eltern der Kinder selbst... Es ist ein Mosaik, das am Ende aber doch nur einen Schluss zulässt (und das ist in meinen Augen auch der richtige): Kinder haben in Social Media nichts zu suchen! Vor allem, wenn sie dabei keinerlei Mitspracherecht haben und ihre offenkundigen Sorgen und Wünsche völlig ignoriert werden.

Claras Perspektive war für mich entbehrlich. Natürlich konnte nur über ihren Charakter auf die polizeilichen Dokumente zugegriffen werden, aber ihre persönliche Geschichte hat mich wenig interessiert. Sie steht im Kontrast zu Mélanie, da sie sich einigermaßen bewusst für ein Leben ohne Kinder entschieden hat (mit was sie aber ständig hadert), während Mélanie ziemlich ohne Nachdenken in Ehe und Mutterrolle hineingeschlittert ist. Klar, der Fall lässt Clara auch Jahre später nicht recht los, und so ist die Verbindung zum zweiten Teil des Romans gesichert, aber für mich sind das etwas zu viele erzähltechnische Komponenten, die ihren Charakter rechtfertigen.

Wir machen im zweiten Teil des Romans einen Zeitsprung ins Jahr 2031, in dem De Vigan es nicht verpasst, den Klimawandel als Alltagsproblem zu illustrieren und den unaufhaltsamen Fortschritt der Technik zu zeigen, ohne in SciFi abzudriften. Wir erfahren, was aus Mélanie und den Kindern wurde, und hier habe ich vielleicht die größten Probleme mit der Geschichte, da sie dann einfach zu unauthentisch wird. Meine Verachtung für Mélanie wuchs mit jeder Seite, und das ist kein angenehmes Gefühl.

Völlig gefehlt hat mir die Perspektive des Vaters und Ehemannes, Bruno. Er war immer einer Randfigur, die unterstützend zur Seite stand und sich zu nichts geäußert hat. Ihm weist De Vigan auch offensichtlich nicht das gleiche Maß an Schuld zu wie Mélanie, und das finde ich hochproblematisch. Statt Claras Perspektive hätte ich mir sehr gut vorstellen können, Brunos Gedanken kennenzulernen. So bleibt er ein Geist in der Geschichte, ohne Substanz und ohne Handlungsmacht.

Die vielen Kritikpunkte klingen beinahe, als hätte mir der Roman nicht gefallen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Es war ein berauschendes Leseerlebnis, extrem gut komponiert und sehr durchdacht. Es ist anspruchsvolle Literatur, die nach anspruchsvoller Kritik verlangt. Das Schicksal der zwei Kinder, die ihren Eltern so vollkommen ausgeliefert waren, hat mich sehr mitgenommen und betroffen gemacht. Die wahren Verbrecher sind hier ganz andere, als man auf den ersten Blick meint. Auch die Einstellung zu Konsum und Kapitalismus, die wir als Gesellschaft angenommen haben, führt uns De Vigan schonungslos vor Augen. Es geht nur um Besitzen und Verkaufen, und die Menschen lassen es mit sich machen. Und bei denen, die diese "Arbeit" tun, mischen sich die Sucht nach Luxus und die Suche nach Liebe zu einem kranken Cocktail, der alles vergiftet. Die allumfassende Frage nach Identität in einer Welt, in der man nur noch im Außen lebt und alles, was man tut, zu einer Story wird, steht immer drohend im Raum.

Ein Buch, das unter die Haut geht, aber sicher nicht sein gesamtes Potenzial ausgeschöpft hat.