Unbedingte Leseempfehlung

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fraedherike Avatar

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"Wenige Sekunden später erschienen die ersten Herzen und Küsschen-Emoticons auf dem Bildschirm. Innerhalb weniger Minuten hatte sie siebenhundertachtzehn Likes erhalten. Sie lächelte." (S. 218)

Schon als junges Mädchen war Mélanie fasziniert von den Reality Shows im Fernsehen und fieberte allabendlich gemeinsam mit ihrer Familie vor dem Bildschirm mit, wer gewinnen würde – und schon damals wusste sie: das will ich auch. Berühmt, überall erkannt werden. Doch noch viel eher: Geliebt werden. Jahre später hat sie sich diesen Traum erfüllt: Nach der Geburt ihrer zwei Kinder Sammy und Kimmy gründet sie nach Vorbild zahlreicher Youtuber den Kanal „Happy Recré“, der schon kurz nach der Veröffentlichung der ersten Videos mehrere Millionen Follower hat. Beinahe täglich postet sie Videos aus ihrem Familienalltag, teilt jeden Schritt, jedes Wort ihrer Kinder mit der ganzen Welt. Drei Jahre besteht der Kanal schon, alle Menschen lieben ihre Challenges, die Unboxings, diese ach so glückliche Vorzeigefamilie – doch irgendwas stimmt nicht. Kimmy wirkt in sich gekehrt, abweisend, scheint keine Lust mehr zu haben, auf Knopfdruck in die Kamera zu lächeln und ihren Followern Schmuseküsse zu schicken. Bestimmt nur eine Phase, die vorüber geht, denkt sich Mélanie, warum sollte ihr all das keinen Spaß mehr machen bei all der Liebe, die sie bekommt? Kurze Zeit später verschwindet Kimmy spurlos. Und die Suche nach Verdächtigen erweist sich für die ermittelnde Polizeibeamtin Clara als ein scheinbar undurchdringbares Netz in der digitalisierten Welt.

In ihrem Roman "Die Kinder sind Könige" (OT: Les enfants sont rois, aus dem Französischen von Doris Heinemann) zeigt Delphine de Vigan eindringlich, inwiefern und mit welchen Folgen (kleine) Kinder im Internet, speziell in den sozialen Medien zu Konsumzwecken von ihren Eltern zur Schau gestellt, ausgebeutet werden, ohne jemals ein Mitspracherecht zu haben, nein: Sie müssen funktionieren, zu jeder Tag- und Nachtzeit lächeln, perfekt sein. Erniedrigt und bloßgestellt trifft es in manchen Fällen vielleicht eher. Sind es all die Likes, die digitale Liebe und die Umsätze in Millionen, die durch minutiös gescriptete Stories, Unboxings oder den Verkauf von Merchandising generiert werden, wert, seine Kinder zu Marionetten zu degradieren, sie durch die frühe mediale Präsenz krank zu machen, ihnen jegliches Mitspracherecht untersagt?
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Mit der Spannung eines Krimis, der detaillierten Nüchternheit eines wissenschaftlichen Artikels und der liebevollen Zeichnung eines Romans beschreibt die Autorin ausgehend der Kindheit der beiden Protagonistinnen Mélanie und Clara, wie ihre von Grund auf unterschiedliche Erziehung und Kindheit ihre späteren Lebenswege prägen würde, es die eine in die Öffentlichkeit zieht, während die andere sich im Hintergrund hält. Allmählich erhält man einen Eindruck, aus welchen Gründen Mélanie sich dazu entschloss, Videos ihrer Kinder auf YouTube zu posten, immer öfter, immer professioneller – bis ihr Mann Bruno schließlich sogar seinen Job kündigt, weil die Produktion zunehmend zeitaufwändiger und die Verträge mit ihren Werbepartnern immer ertragreicher werden. All die Likes und die bewundernden Kommentare geben ihr die Anerkennung, ja, Liebe, wenn man so mag, nach der es sie seit ihrer Kindheit verlangte, ihr aber nie zuteilwurde. Doch die Bekanntheit hat auch ihre Schattenseiten: Die Stimmen ihrer Neider werden immer lauter, und die öffentliche Kritik an der „Kinderarbeit“ wächst, erste Gesetzesentwürfe zum Schutz der „kleinen Stars“ warten auf die Verabschiedung. Für die Polizistin Clara ist es eine völlig neue Welt, die sie im Rahmen der Recherchearbeit im Fall Kimmy entdeckt – und was sie über die Hintergründe des Geschäfts mit den sozialen Medien herausfindet, ist gleichermaßen faszinierend wie erschreckend. Ebenso wie die Folgen des frühen Ruhms, die viele Jahre nach Abschluss des Falls am späteren Leben der einstigen Kinderstars ersichtlich werden.
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Selten hat mich eine Geschichte so viel mit mir gemacht wie „Die Kinder sind Könige“. Ich war regelrecht beklommen ob der Beschreibungen des Verhaltens Mélanies, die letztlich nicht mehr als ein realistisches Abbild dessen sind, was mir täglich in den sozialen Medien vorgeschlagen wird – und ich schon vor diesem Buch mehr als fraglich fand. Es ist pervers, anders kann ich es nicht beschreiben, und die Folgen können für die Kinder dramatisch sein. Von psychischen wie Erkrankungen wie Angststörungen und soziale Phobien wird berichtet, neurologischen Ausfälle, Symptomen von Stress und Überforderung bis hin zum Burn Out. Und wofür das alles? Für Likes, digitale Liebe und den Ruhm des Augenblicks. Gerade in der heutigen Zeit und der zunehmenden Digitalisierung, die seit Beginn der Corona-Pandemie an Stellenwert gewonnen hat, ist es wichtig, sich und seinen Umgang mit den sozialen Medien zu reflektieren, sich selbst und andere zu schützen, denn was einmal im Netz ist, bleibt da auch. Darüber soll gar nicht vergessen werden, welche Vorteile das Internet und die soziale Medien auch mit sich bringen können, doch sollte eine gesunde Balance gewährt werden.
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Delphine de Vigan hat mit diesem Buch ein Abbild unserer Gesellschaft geschaffen, das mich in seiner Härte, Aktualität und Schonungslosigkeit begeistert und gefordert hat und noch lange beschäftigen wird. Unbedingte Empfehlung!