Wo hört der Spaß auf und wo fängt die Arbeit für die Kleinsten an?

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
lesestress Avatar

Von

„Als Mélanie das Display ihres Smartphones nach rechts wischte, wurde eine Auswahl neuer Nachrichten angezeigt. […] Wenn sie hätte schätzen müssen, wie oft am Tag sie diese Geste ausführte, hätte ihre Vermutung sicher weit unter dem tatsächlichen Wert gelegen.“

Die französische Autorin Delphine de Vigan legt in ihren Werken den Finger in die Wunde wirklich schmerzvoller Themen: Magersucht, Demenz und Suizid hat sie bereits in den Fokus ihrer Romane gestellt und damit den Menschen eine Stimme gegeben, die sonst systematisch ignoriert worden sind. Jetzt endlich ist ihr langersehnter, neuer und hochaktueller Roman erschienen. In „Die Kinder sind Könige“, das von Doris Heinemann aus dem Französischen übersetzt worden ist, geht es um sogenannte Kidfluencer*innen, also die Kinder, deren Leben durch ihre Eltern in den Sozialen Medien geteilt und vermarktet werden. Diese Form der Kinderarbeit ist bis jetzt eine rechtliche Grauzone. Die Mühlen der Justiz mahlen zu langsam für das sich schnell entwickelnde Phänomen, zeitgemäße Anpassungen lassen zu lange auf sich warten. Dadurch entsteht ein gesetzlicher Rahmen, der den Erziehungsberechtigten viel Spielraum bietet: Aber wo hört der Spaß auf und wo fängt die Arbeit für die Kleinsten an? Delphine de Vigan konstruiert am Beispiel der fiktiven Kimmy Diore einen Kriminalfall und ein Gedankenspiel mit Blick in die Zukunft.

Schon immer träumte die junge Mélanie von Bekanntheit und einem Leben als waschechter Fernsehstar. Jetzt hat sie es geschafft! Gemeinsam mit ihren beiden Kindern Kimmy (6 Jahre alt) und Sammy (8 Jahre alt) hat sie mehrere erfolgreiche Kanäle auf Social Media und teilt das familiäre Leben mit Millionen von Abonnent*innen tagtäglich. Die kurzen Clips, in denen die Kinder zum Beispiel gesponserte Produkte auspacken, sind so beliebt, dass Mélanie jährlich sechsstellige Summen einnimmt und der Kindesvater sogar seinen Beruf aufgeben kann, um die Produktion der immer professioneller werdenden Videos zu unterstützen. Die Familie wird zur Firma. Doch mit steigendem Erfolg wird die kleine Kimmy – der Star! – immer unwilliger. Mutwillig macht sie gesponserte Outfits schmutzig oder wirft auch schon einmal die Kamera im Filmstudio um. Mélanie hält ihr Verhalten für eine Trotzphase. Warum sollte sich das Kind über ein Leben im Überfluss auch beschweren, wenn es doch wirklich _alles_ hat? Kurz darauf verschwindet die kleine Kimmy beim Versteckspielen mit den Nachbarskindern. Ist sie einfach weggelaufen oder wurde sie gar entführt? Die ermittelnde Polizeibeamtin Clara ist alarmiert.

In „Die Kinder sind Könige“ spielt Delphine de Vigan mit den Lesenden, wechselt die Perspektiven der gegensätzlichen Charaktere von Mutter Mélanie und Polizeibeamtin Clara und streut zudem Ermittlungsprotokolle in ihren Text ein. Der Roman bekommt so eine besondere Dynamik und einen rasant-krimihaften Charakter. Die Autorin bleibt textuell nahe an den Protagonist*innen und auch nahe am Geschehen. Jedoch erhebt sie den Zeigefinger sehr hoch und sehr weit, um ihre Sichtweise an dem Kidfluencer*innen-Phänomen zu verdeutlichen. Obschon der Text also so klar und pointiert wie immer ist, muss ich ihr inhaltlich eine übertriebene Konstruiertheit vorwerfen, die durch den zweiten Teil des Buches (mit einem Blick in die mögliche Zukunft) leider noch verstärkt worden ist. Insgesamt, so scheint mir, ist der Text inhaltlich nicht organisch gewachsen, hat sich der thematischen Konstruktion eher untergeordnet. Nach meinem Empfinden hat der Text sich so leider selbst überholt. Obgleich ich das Thema des Buches unheimlich wichtig und zeitgemäß finde, Delphine de Vigan die richtigen Fragen stellt und einen wichtigen Fokus setzt, konnte sie mich – anders als sonst – nicht vollends überzeugen. Trotzdem möchte ich „Die Kinder sind Könige“ empfehlen: als Anstoß für eine nötige Diskussion und den Beginn einer längst überfälligen Debatte!