Bis die Welt sie nicht mehr wollte

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marapaya Avatar

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Die Bücher anderer Leute bieten einem die Möglichkeit ein kleine Auszeit von dem eigenen Leben zu nehmen und mal in ein ganz anderes hinein zu schnuppern. Wir können als Leser ständig die Rollen wechseln, ohne schwere Kofferlast weit entfernt liegende Länder bereisen und von einer Liebe in die nächste stolpern. Gefühle, Stimmungen und Gedankenspiele werden vor uns ausgebreitet, wir brauchen uns nur voller Zutrauen in den Autor in die weichen Seiten der Geschichte fallen lassen.
Scott Bradfield will es dem Leser nicht so leicht machen. Seine erzählte Geschichte ist eine unerhörte. Ein Thema, welches einem den Atem stocken lässt, und eine literarische Umsetzung, die einlullt, täuscht und verstört zugleich. Salome, auch genannt Sal, ist drei Jahre alt und wird von einem Handwerker aus dem Haus ihrer Eltern entführt. Es ist keine Lösegeldgeschichte, Salome bekommt einen neuen Daddy und ein neues Zuhause. Das Heim ist nur vorübergehend. Daddy verschwindet wieder und Sal wandert von einer kurzen Heimstatt in die nächste. Sie begegnet den merkwürdigsten Menschen, erlebt seltsame Geschichten und in allem steckt eine verwirrende Wiederholung und Beliebigkeit. Bewegt sie sich am Rand der Gesellschaft, geht sie mitten hindurch, von wem wird sie gesehen und wer nimmt sie auf? Aus Bradfields Erzählperspektive sind diese Fragen nicht zufriedenstellend zu beantworten. Sal führt uns durch ihre Welt und sie interpretiert sie auf ihre Art. Ihr sind unsere Fragen egal. Was hat es mit Daddy wirklich auf sich, warum drängt es ihn fremde, kleine, süße Mädchen wegzuklauen und warum kann er dann nicht für sie sorgen, bei ihnen bleiben? Haben Tim und seine Großmutter Sal tatsächlich etwas angetan und wie ist sie in die Hände der gar nicht koscheren Kinderfürsorge geraten? Wie konnte ein vier oder fünfjähriges Mädchen tage- oder gar wochenlang allein in der Wüste überleben? Wieviele skurrile, kranke Menschen bevölkern nur unseren Planeten? Diese Fragen muss sich der Leser selbst beantworten. Er mag sich auf weiten Strecken von Bradfields unaufgeregtem Erzählstil einlullen lassen, doch ab und zu durchbricht Salomes Erzähldimension ein Fetzen einer anderen Wirklichkeit. Einer, in der ihre einleuchtenden, philosophisch angehauchten Überlebensstrategien in einem anderen, unheilvollen Licht erscheinen, die uns mit nur ein wenig mehr Wissen zutiefst zu verstören vermag, vor der wir uns nur zu gern wieder in Sals Welt zurückziehen mögen.
Der Autor führt uns vor. Er seziert unsere Welt bis auf das kleinste Stückchen Wahrheit und wirft es uns verfremdet, aber nicht gänzlich unkenntlich gemacht, wieder vor die Füße. Er wiegt uns in Sicherheit, kennt unsere Ängste vor dem Bösen im Menschen genauso wie unser Lechzen nach Glück und Frieden, und vor allem weiß er um unseren Hang, nur das zu sehen, was wir sehen wollen und was wir ertragen können.