Das alte Kind

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metalpanda Avatar

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Salome wird im Alter von drei Jahren von einem Handwerker entführt und ist seitdem auf Wanderschaft. Sie erlebt viele Menschen, die alle irgendwie kaputt sind, erlebt alle möglichen Miseren - Leben in abbruchreifen Hütten und unter freiem Himmel, Hunger und Durst bei ihrer Wanderung durch die Wüste, das Wort "Missbrauch" fällt einige Male oder entsprechende Handlungen werden angedeutet. Andererseits wird sie als eine Art neuer Messias dargestellt, die Menschen pilgern regelrecht zu ihr. Doch Sal - obwohl so viel los ist um sie - lebt wie eine Schnecke in ihr Häuschen zurückgezogen, saugt zwar die ganzen Eindrücke auf, lässt sich aber nichts anmerken. Sie spricht nicht, solange sie nicht muss.
Die skurrile Reise der kleinen Sal umfasst nur knapp 250 Seiten. Jedoch ist es kein leichter Stoff zum lesen. Die Hauptfrage, die mich beim Lesen beschäftigte, und nach dem Fertiglesen immer noch wurmt, ist: was wollte der Autor uns damit sagen?
Es soll das Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft darstellen. Doch die Menschen, die im Buch vorkommen, sind allesamt der untersten sozialen Schicht zuzuordnen und sind gelinde gesagt etwas krank im Kopf. Ein sehr seltsames Spiegelbild.

Mit der Figur von Sal konnte ich nicht recht warm werden. Eigentlich müsste man mit einem entführten Mädchen, das in Dreck inmitten des gesellschaftlichen Abschaums hausen muss, Mitleid haben. Doch die Figur ist so irreal, dass man als Leser nur Verwirrtheit empfindet, nichts weiter.
Vermutlich soll der Roman darstellen, dass ein dreijähriges Kind klüger, überlebensfähiger und einfach besser als die "unterste Unterschicht" ist. Doch die realitätsfremde Protagonistin wirkt viel zu selbstständig, viel zu altklug und viel zu aufgesetzt für eine 3-4-Jährige und rutscht dadurch in Unglaubwürdigkeit. Sie drückt sich sehr gewählt und in langen Sätzen aus, kann ihre Kleidung selbstständig waschen, alleine einkaufen, sie schreibt ein Buch über ihr Leben (?!) und viel mehr. Noch dazu hebt jeder, der ihr begegnet, hervor, wie wohlerzogen sie sei - von wem denn? Als Kleinkind aus ihrem Elternhaus entführt (das anscheinend auch nicht so das Wahre war, wenn sie es schnell vergisst und ihren Entführer ihren Daddy nennt), lebt seit sie drei ist abwechselnd in der Wildnis oder bei "asozialen Elementen" - wer hat sie denn erzogen? Wahrscheinlich sie selbst, so schlau wie sie dargestellt wird. Ein knicks-machender Tarzan mit Knigge unterm Arm quasi.

Eine andere äußerst unglaubwürdige Tatsache ist, dass die Menschen, "die sie vorübergehen sahen", das einfach so hinnehmen, dass ihnen ein fremdes Mädchen zugelaufen ist. Zeitweise wohnt sie wohl auch in "besseren" Häusern, bei kinderlosen Paaren in Reihenhaussiedlungen, und keiner kommt auf die Idee, die "Fürsorge" (das Pendant zum Jugendamt) oder die Polizei einzuschalten? Überhaupt wird die Staatsmacht (die "Fürsorge") als sehr negativ dargestellt, das Mädchen habe es bei den schlimmsten Leuten besser als in den Händen von professionellen Betreuern. Hmmm...

Der Schreibstil ist ebenfalls sehr wirr. Es gibt keinen richtigen Plot, es sind Gedankensprünge drin, zeitweise hatte ich das Gefühl, dass Teile von der Erzählung ausgelassen wurden. Auch Zeitangaben sind sehr schwammig, man weiß nicht wieviel Zeit zwischen den Kapiteln verging bzw. was in der Zwischenzeit passierte. Reichte die Phantasie des Autors nicht aus oder soll die Phantasie des Lesers angeregt werden?

Die Idee dieses Buches ist sicherlich nicht schlecht. Doch an der Umsetzung hapert es leider gewaltig. Manche Ansätze sind gut ausgedacht (wie zum Beispiel das Zelebrieren Sals als Messias), doch schlecht durchdacht (wieso wird sie zu diesem Symbol? Ist sie das einzig Unverbrauchte in der schlimmen Welt?)
Eine andere denkbare These: jeder Schwache sucht sich jemand noch Schwächeren, um sich stark zu fühlen. Sal selbst blüht ja auch richtig auf, als sie eine "kleine Schwester" bekommt und schwafelt sie genauso geschwollen zu, wie die Erwachsenen es mit ihr tun.

Ich bin mir nicht sicher, was ich von dem Buch halten soll. Es regt zum Nachdenken an, aber auf eine sehr verwirrende, groteske und skurrile Art und Weise. Für Leute, die über unsere schlimme Welt philosophieren wollen, vielleicht empfehlenswert.