Unsere seltsame Welt aus dem Blickwinkel eines entführten Kindes

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leseleo Avatar

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Scott Bradfields "Die Leute, die sie vorübergehen sahen" ist ein schönes Hardcoverbuch mit einem auffälligen Titelbild: Ein in pink umrahmtes, einfach gehaltenes Kinderportrait. Im Nachhinein betrachtet ist dieses Titelbild eine hervorragende Zusammenfassung des Buches. Es ist einfach, bunt, lässt Interpretationsspielraum und insgesamt ein wenig schräg.
Die Einleitung steigt dann sofort in die Geschichte ein. Ohne Vorgeschichte wird unmittelbar von Sal und ihrem Dasein in dieser Welt berichtet. Schon zu Beginn lässt der Blickwinkel des Romans aber auch viel Spielraum für Interpretationen. Sals Entführung und der Einstieg in ihr neues Leben mit ihrem neuen Daddy, den Sie ohne Umschweife akzeptiert, wirkt zunächst befremdlich, aber passt im Nachhinein betrachtet zum gesamten Buch. Der Leser sollte sich von Anfang an von den "normalen" Gedanken, die man in Verbindung mit einer Kindesentführung hat, verabschieden und Sals Werdegang, ebenso wie die Hauptfigur selbst, aus einem anderen Blickwinkel sehen.
Die Geschichte, die sich in der Folge entwickelt beschreibt die unterschiedlichen Etappen von Sals Reise. Über verschiedene eigenartige Personen, Waschsalons und den staatlichen Hilfseinrichtungen entwickelt sich Sal immer weiter und hat immer neue Gedanken und Gefühle in dieser Welt. Teilweise kalt und unsentimental, aber auch ironisch kommentiert Sal die Welt, in der sie lebt. Eine wesentliche Eigenschaft des Buches ist die immer wieder unterbrochene Handlung. Oftmals gibt es eine große Lücke in der Geschichte, welche sich anschließend nach und nach wieder schließt. Dies erfordert hohe Fantasie und Konzentration vom Leser. Ebenso gewöhnungsbedürftig sind die langen Monologe der einzelnen Erwachsenen, die sich mit Sal unterhalten. Zwar werden in diese Monologe immer wieder Sals Gedanken eingestreut, aber dies wirkt doch ein wenig eintönig. Was auffällt, ist die einheitliche Grammatik und der gleiche Satzbau, welche alle Erwachsenen benutzen. Dies soll sicher verdeutlichen, dass Sal die gesamte Geschichte nacherzählt, aber es wirkt absolut ermüdend. Immer wieder werden die selben Fragen an "das kleine Mädchen" gestellt und die Monologe enden nahezu immer gleich. Ein Spannungsbogen ist in diesem Roman leider nicht vorhanden. Die Geschichte liest sich von Beginn an sehr monoton und man nimmt an keiner Stell wirklich Lesegeschwindigkeit auf. Der gebrochene Handlungsstrang wirkt der Geschwindigkeit eher noch entgegen. Das Ende passt sich dann nahtlos an den Rest des Buches an ohne es wirklich abzuschließen.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass ich immer noch auf der Suche nach dem im Klappentext versprochenen Abbild der amerikanischen Gesellschaft bin. Ich bin der Auffassung, dass man in diesen Roman sicher viel hineininterpretieren kann. Aus diesem Grund eignet sich "Die Leute, die sie vorübergehen sahen" sicher für Diskussionsrunden und Literaturstudien, aber nicht zur leichten Unterhaltung für Zwischendurch. Für mich wurde das Buch nach interessantem Beginn mehr und mehr zur Tortur. Der Bruch im Handlungsstrang zwischen dem ersten und zweiten Kapitel und der nicht vorhandene Spannungsbogen haben mir persönlich dann endgültig den Spaß am Buch genommen. Insgesamt war ich nach dem Leseeindruck und dem Klappentext auf den Roman gespannt und wurde dann leider schwer enttäuscht. Aber wie bereits gesagt: Leute, die Texte analysieren und interpretieren wollen, werden mit diesem Buch ihre wahre Freude haben.