Verlorene Kindheit

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timphilipp Avatar

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Sal wird mit drei Jahren in ihrem Elternhaus von einem Monteur entführt, der zu ihrem „Daddy“ wird. Für Sal beginnt eine Odyssee durch verschiedene Haushalte Erwachsener – u.a. bei „Daddy“, bei der geschwätzigen Vermieterin Mrs. Anderson, einem alten Waschsalonbetreiber, dem Drugstoreangestellten Tim, wieder bei „Daddy“, einem altjungen Mann. Zwischendurch nimmt sich wiederholt die Kinderfürsorge ihrer an und hat Sal ein gerichtliches Missbrauchsverfahren gegen Kinderschänder zu ihrem Nachteil durchzustehen Nach einem Aufenthalt in der Wüste gelangt sie schließlich wieder zu ihren Eltern, die einander nun völlig fremd sind.
Die jeweiligen Stationen werden nur skizziert. Manchmal stellt sich einem die Frage, ob sie möglicherweise nur der kindlichen Phantasie Sals entspringen, so unrealistisch klingt das Drumherum. Insbesondere bei dem Wüstenaufenthalt ist das der Fall. Dieser Abschnitt liest sich am schwersten. Offen bleibt auch, ob Sal tatsächlich missbraucht wurde.
Den meisten erwachsenen Romanfiguren ist ihre Eigensucht gemeinsam – sie nehmen Sal auf und setzen sie nach Belieben wieder aus. Gemeinsam sind ihnen auch ihre Herkunft als Verlierer in der Gesellschaft und ihre merkwürdigen Lebensanschauungen. Z.B. lehnt „Daddy“ alles Materielle ab. Mrs. Anderson hat eine eigenartige Ansicht von der Liebe zwischen Mann und Frau. Der Waschsalonbesitzer meint, dass Leben ein hübsches Versehen ist, das passiert ist, als die Welt mal nicht aufgepasst hat. Tim hält sich und Sal füreinander bestimmt. Alle nennen Sal nie bei ihrem Namen, sondern „kleines Mädchen“. Dazu mutet es als Widerspruch an, dass sie mit ihr wie zu einem Erwachsenen sprechen.
Die Geschichte ist aus der Perspektive der kleinen Sal geschrieben. Einerseits scheint das unglaubwürdig, denn ein Kind in dem Alter ist niemals so weise und klug wie Sal. Andererseits gleicht Sal mit ihren philosophischen Lebensansichten einem Erwachsenen. Sie vertritt Ansichten über das Leben, die zum Nachdenken und Hinterfragen anregen. Einige Beispiele möchte ich nachfolgend aufzählen:
„Der beste Teil des Lebens war der, bei dem keiner zusah. Und der beste Ort für diese Art Leben war stets der Keller im Haus anderer Leute.“ (S. 53)
„ … ich weiß, was ich weiß, und das ist genug.“ (S. 58)
„Gleich, das sind die Menschen, die (man) hinter sich lässt.“ (S. 117)
„Alles, was zählt, ist das Leben, bis es vorbei ist. Und wenn es vorbei ist, geh nicht noch mal hin.“(S. 165)
Sals Klugheit, Distanziertheit, Emotionslosigkeit und Schweigsamkeit („Sal sprach nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Sie fand, Schweigen war die beste Art, Unbescholtenheit und Selbstkontrolle zu bewahren.“ S. 75) machen es mir schwer, ihr meine Sympathie zu geben, zumal sie so rein gar nicht kindlich wirkt.
Der Autor serviert dem Leser keine leichte Kost. Psychologisches und philosophisches Interesse sollten vorhanden sein. Wer das mitbringt und keine seichte Unterhaltung wünscht, wird seine Freude haben. Auf jeden Fall eine untypische Leseerfahrung.