Was musste Sal erleben?

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suse9 Avatar

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Sal ist gerade einmal 3 Jahre alt, als es sich der Mann, der den Boiler im Haus ihrer Eltern reparieren soll, anders überlegt und statt dessen lieber das kleine Mädchen in den klapprigen Lieferwagen setzt und mit ihr verschwindet. In seinem verwahrlosten Zuhause angekommen, erklärt er ihr, dass sie nun _ihn_ Daddy nenne solle und _er_ sich künftig um sie kümmern würde. Und das tut er auch. Er achtet darauf, dass sie gesunde Dinge zu essen bekommt, kauft ihr Spielsachen und erklärt ihr den  Sinn des Lebens. Er ist ein guter Daddy, der sich sorgt und Sal beschützt - solange, bis er eines Tages in sein Auto steigt und verschwindet. Die entstandene Lücke füllt seine Nachbarin aus. Sie nimmt Sal bei sich auf und umsorgt sie. Die Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gesammelt hat, gibt sie gern an Sal weiter, ob diese nun will oder nicht. Aber auch bei Mrs. Anderson bleibt sie nicht lange, zieht von einer Station zur nächsten, wird von Menschen aufgenommen und wieder gehengelassen, lebt in Waschsalons, in Ecken und Nischen. Dabei beobachtet sie, hört zu, nimmt Erzähltes wie ein Schwamm auf und agiert dabei selbst selten aktiv.

Der Autor lässt den Leser das Geschehen durch die Augen einer Dreijährigen sehen. Dabei verschwimmt die Zeit, nur Bruchstücke werden offengelegt, Vieles geschieht im Verborgenen.Daddy ist kein Daddy und Mrs. Anderson nicht wirklich gut.  Anfangs konnte ich der Handlung sehr gut folgen. Dabei stellte sich aber sehr schnell ein mulmiges Gefühl ein, da ich immer in Erwartung war, dass etwas Schreckliches geschehen würde. Aber es blieb aus, oder besser, es wurde nicht gesagt, nicht direkt angesprochen. Plötzlich las ich einen Satz, der mich vermuten lies, dass Sal missbraucht worden war. Aber nichts dergleichen hatte ich wirklich im Vorfeld gelesen. Ich blätterte zurück, suchte in Passagen nach den Antworten, fand einige jedoch viele nicht. Fast fühlte ich mich selbst schon als Dreijährige (oder war ich mittlerweile 5 oder 6?), die nicht durchschaut, Schreckliches verdrängt, Geschehnisse falsch deutet. Langsam verzweifelnd versuchte ich, hinter die Fassade zu schauen, doch nicht völlig gelang mir das.

Scott Bradfield nahm mich mit auf eine Reise, die micht zwang, die Augen zu öffnen, nichts als Selbstverständlich anzunehmen und nie mit dem Hinterfragen aufzuhören. Ich hätte Sal gerne geholfen, konnte es jedoch nicht, da ich meine Unsicherheit nicht überwand. Und dies ist es auch, was ich dem Autor etwas übel nehme. Er machte mich unwissend und somit unsicher, lässt mich mit dem Gefühl zurück, etwas ganz Wichtiges, Entscheidendes nicht erkannt und entdeckt zu haben.

Das Buch liest sich wirklich gut, leider bleiben zu viele Fragen offen, und ich weiß genau, dass ich keine Antworten darauf finden werde.

Bei der Sternevergabe musste ich lange überlegen. Es ist kein schlechtes Buch - Ich habe es gerne gelesen. Es ist kein Buch, das ich jemandem empfehlen würde - Ich bleibe zu ratlos zurück. Es ist ein gutes Buch - Ich habe viele interessante Beobachtungen machen dürfen, über die ich mir Gedanken machen werde. Es ist ein schwieriges Buch - Ich werde das ungute hilflose Gefühl nicht los. Am liebsten würde ich auf die Sterne ganz verzichten und jedem Leser ans Herz legen, das Buch selbst zur Hand zu nehmen und sich sein eigenes Urteil dazu zu bilden. Eine Diskussion über das Gelesene lohnt sich allemal.