Virginia - und auch nicht

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teetrinkerin.67 Avatar

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Stefanie H. Martin legt hier den ersten Teil der Trilogie „Die Liebenden von Bloomsbury – Virginia und die neue Zeit“ vor. Eine gut geschriebene historische Romanbiographie über die frühen Jahre der Virginia Stephen (später Woolf), die vielleicht treffender mit „Die Stephens“ untertitelt worden wäre.
Damit würde das Buch aber weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sich weniger gut verkaufen lassen, weniger neugierig machen und aus diesen nachvollziehbaren Gründen kann ich dem Verlag die Vollmundigkeit nachsehen, die ja auch mich neugierig gemacht hat. Zu dieser Neugierde hat das Cover sicherlich beigetragen, auch wenn ich es etwas blässlich-pastellen finde, angesichts der kraftvollen Lebensbeschreibung, die sich dahinter findet.

Martin schreibt über das Leben von Virginia Stephen und ihrer Geschwister Vanessa Thoby und Adrian, die nach dem Tod des Vaters ohne die ungeliebten älteren Stiefgeschwister ein Haus im Bloomsbury-Viertel in London beziehen. Es ist der Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und der Aufbruch in die Moderne, Virginia und mehr noch ihre ältere Schwester Vanessa stehen im Zentrum des Romans. Gerade Vanessa verkörpert die selbstbewusste Frau, die sich ihren Teil des Lebens eigenständig erobern will, sie ist auch die treibende Kraft beim Hauskauf. Hier kann sie ihre künstlerischen Ambitionen ausleben, ihr Studium der Malerei weiterbetreiben. Neben dem philosophisch-geisteswissenschaftlichen Salon, der sich mit den Studienfreunden des ältesten Bruders Thoby etabliert, gründet sie mit ihrem späteren Mann Clive Bell einen künstlerischen Zirkel, der sich jenseits der staubig-trockenen viktorianischen Kunstszene in England sieht.
Der frühe Tod beider Elternteile und der Missbrauch durch den älteren Stiefbruder führt bei der genialen aber labilen Virginia zu einer Nervenkrise, welche sich im Laufe ihres Lebens mehrmals wiederholen soll. Nach mehrmonatiger Pflege durch eine Freundin und einem „Erholungs“-Aufenthalt bei einer puritanischen Tante ist Virginia wiederhergestellt. Sie kehrt nach London zurück und widmet sich den Briefen ihres Vaters als Vorbereitung zu einer Biographie und beginnt ihren ersten Roman zu schreiben.
So begabt und eigenständig die beiden Frauen auch sind, so deutlich zeigt dieser Roman das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Schwestern werden trotz ihrer geistigen und finanziellen Unabhängigkeit immer wieder in eine Eheschließung gedrängt, damit sie nicht als „alte Jungfern“ enden. Auch wenn Martin Vanessa sagen lässt: „Eine Ehe jedenfalls bedeutete, ihre Freiheit für immer aufzugeben.“ heiratet sie Clive Bell und ihre Unabhängigkeit verschwindet, zumindest zeitweise, mit der Geburt des ersten Kindes. Bis zur Eheschließung Virginias mit Leonard Woolf reicht der erste Teil der Trilogie nicht, das klang in der Ankündigung zum Buch anders.

Im Bloomsbury-Kreis, den Zusammenkünften der Freunde im Haus der Stephens, geben lange Zeit die Männer alleine den Ton an. Sie bestimmen die Themen und den Tonfall. Selbst später, als die Beziehungen enger und freundschaftlicher werden ist die männliche Homosexualität auch in drastischem Vokabular Teil der Gespräche, während für die Frauen ein Ehemann das Ziel der Lebensträume sein soll. Diesen Konventionen will sich Virginia nicht unterwerfen, sie schreibt Rezensionen für verschiedene Zeitschriften und trägt damit einen großen Teil zum Einkommen der Geschwister bei, die überwiegend vom Erbe der Familie leben. Sie schreibt auch ihren ersten Roman, über eine „leidenschaftliche, begeisterungsfähige Frau, [die] aber auch oft zornig [ist], weil sie sich nicht damit abfinden will, als Frau von höherer Bildung ausgeschlossen und nur für die Ehe bestimmt zu sein.“Virginia erobert sich ihren Platz in der literarischen Gesellschaft, noch bevor sie verheiratet ist.

Martin schreibt die Romanbiographie beinahe im Stile eines Tagebuchs, die Kapitel sind mit Orts- und Datumsangaben versehen, immer wieder fügt sie Briefe ein, oder lässt in Virginias Nervenkrise ihre Gedanken zu Wort kommen. All das vermittelt der Leser:in den Eindruck, sich im London des vergangenen Jahrhunderts wiederzufinden. Es lässt die Atmosphäre lebendig werden und bringt die Figuren und Charaktere ganz nah. Ich habe das Buch mit Vergnügen gelesen und freue mich auf die nächsten beiden Teile (uh, Vita Sackville-West, ja!) Jetzt lese ich die Erinnerungen von Leonard Woolf „Mein Leben mit Virginia“ und habe mir in der Bibliothek direkt Romane von Virginia ausgeliehen. Insofern in einer Hinsicht das Ziel erreicht, da ich weiter neugierig auf das Leben dieser außergewöhnlichen Frau bin, auf der anderen Seite wurde mir mehr versprochen, als der erste Teil hergibt, deshalb vier von fünf Sternen.