Auf den Spuren der Vergangenheit

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roomwithabook Avatar

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Was als harmloser Urlaub zu zweit beginnt, offenbart sich schon bald als eine Reise ins Ungewisse auf vielen Ebenen.
Ulia und Gustavo, sie Musikwissenschaftlerin auf den Spuren Benjamin Brittens, er Jurist und Professor an einer Hochschule, fahren mit dem Auto durchs Baskenland, Ulias Heimat. Doch schon bald stellt sich heraus, dass es unausgesprochene Geschichten gibt, Geheimnisse, die ein Leben auf den Kopf stellen können. Ulia wird während der Reise zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft gezwungen. Ihr totgeglaubter Vater entpuppte sich vor nicht allzu langer Zeit als zwar kranker, aber dennoch durchaus lebendiger ehemaliger ETA-Terrorist im Gefängnis. Wie geht man mit einer derartigen Offenbarung der Mutter um? Und welche Auswirkungen hat es auf das eigene Leben, wenn der Vater für Hafterleichterungen in den Hungerstreik tritt und sein Name plötzlich in allen Zeitungen auftaucht? Erschwerend kommt hinzu, dass Ulia den richtigen Zeitpunkt verpasst hat, um Gustavo von diesem Sachverhalt zu berichten. Dazu kommt noch die zufällige Begegnung mit einer Journalistin, einer alten Bekannten Gustavos, die im Baskenland ETA-Opfer interviewen möchte. Katixa Agirres Roman ist ein unterhaltsamer Roadtrip mit Tiefgang, der Fragen aufwirft und zum Nachdenken anregt. Während es für Außenstehende einfach ist, die ETA als Terroristengruppe zu verdammen, sieht die Sache aus einer Innenperspektive heraus betrachtet schon ganz anders aus, denn wer entscheidet, wo die Grenze zwischen einem Freiheitskämpfer und einem Terroristen verläuft? Man kann die Taten verurteilen, aber dennoch die Zwischentöne wahrnehmen, die sich durch die eigene Familiengeschichte ziehen. Die Autorin hat diesen Roman (der nicht ihr erster ist, aber der erste ins Deutsche übersetzte) auf Baskisch geschrieben und dann selbst ins Spanische übersetzt. Auch das kann man als politisches Statement oder zumindest als eindeutiges Bekenntnis zur Heimat interpretieren. Genauso zeigen die essayistischen Passagen über den Pazifismus des Komponisten Britten, der in Ulias Augen auch als bloße Weigerung, sich politisch eindeutig zu positionieren gedeutet werden kann, im Wechsel mit den tagebuchartigen Berichten Ulias und den Erinnerungen ihrer Mutter, wie schwierig es ist, in einer Welt voller Widersprüche zu sich selbst zu stehen. Dieser großartige Roman, der auf unterhaltsame Art große Themen wie Identität, Vatersuche und Heimat behandelt, wurde von Silke Kleemann aus dem Spanischen übersetzt (Originaltitel: Atertu Arte Itxaron, span.: Los turistas desganados). Große Leseempfehlung!