Eine Schule auf wackeligem Grund

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Paul und Anni Reiner haben einen Traum: Sie wollen zusammen mit dem Pädagogen Martin Luserke in einer reformierten Schule Kinder unterrichten. Auf der ostfriesischen Insel Juist haben sie dafür das passende Grundstück erstanden. Als Anni mit ihren beiden Töchtern und ihrer Mutter ihrem Mann nachreist, erlebt sie die erste antesemitische Behandlung auf dem kleinen Eiland. Ihre Mutter, die gutbetuchte Philippine Hochschild, darf ihr Hotelzimmer nicht beziehen. Auch die neugegründete Schule leidet unter der Ablehnung der Dorfbevölkerung. Der Gemeinschaft der Lehrer und Schüler scheint das nichts auszumachen. Sie schauspielern und musizieren neben dem Lernen und bilden eine Einheit, die sich der immer größer werdenden nationalsozialistischen Macht kaum entziehen kann. Die vermittelten Werte werden bald hinterfragt.

Sandra Lüpkes widmet sich in diesem historischen Roman gleich mehreren Themen. Hauptsächlich beschreibt sie den Aufbau eines reformierten Internats auf Juist. Der Pädagoge Martin Luserke legte besonderen Wert auf Schauspiel als bildende Kunst. Der Musiklehrer Eduard Zuckmayer unterrichtete ebenfalls dort. Der Bruder des deutschen Dichters lehrte tatsächlich in Ostfriesland, bevor er nach Ankara emigrierte. Die Schule am Meer bestand neun Jahre, bevor sie 1934 aufgelöst wurde. In dieser turbulenten Zeit platziert die Autorin ihre historisch belegten und fiktiven Charaktere und erweckt die Zeit noch einmal zum Leben. Maximilian, genannt Mücke, ist ein Schüler aus Bolivien, der hier ein ganzes Schulleben durchlebt. Er bringt den Lesern seine Emotionen nahe, wenn er sich in der Fremde einlebt, Freunde findet und mit den kulturellen Unterschieden umgehen muss. Im Alter von zehn Jahren kommt er auf die Insel und rettet bei seiner Ankunft einer Gans das Leben, die ihm während der ganzen Zeit treu zur Seite steht. Sie wird Symbolfigur der Schülergruppe Wildgänse. Diese zu dieser Zeit typischen Gepflogenheiten in Internaten werden überzeugend in den fiktiven Anteil integriert.

Auch das Inselleben außerhalb der Schule findet Beachtung. Zum einen ist da die Familie der Köchin Kea, die seit Jahren ein Geheimnis verschweigt. Ihre Familie verkörpert den damaligen Durchschnittsinsulaner. Kea kocht in der Schule und hat sogar ihrer kleinen Schwester ermöglicht, dort am Unterricht teilzunehmen. Die Privatschule wäre dem intelligenten Mädchen ansonsten wegen des hohen Schulgeldes verwehrt geblieben. Derartige Einrichtungen benötigten damals wie heute Gönner, die Projekte finanziell unterstützten. In den 30-er Jahren waren das vorwiegend jüdische Familien. Mit der Ausweitung der Macht der NSDAP wurde auch die Ablehnung der Einwohner gegen die Schule spürbar. Sogar auf einer kleinen Insel mit wenigen Bewohnern wurde das Weltbild gelenkt. Auch wenn nicht viele Worte darum gemacht werden, entsteht eine Vorstellung, wie sich die Gesinnung verbreitet hat. Die fiktive Figur von Bürgermeister Gustav Wenniger steht hier stellvertretend für seine Zeit mit der Entwicklung des Antisemitismus.

Der historische Roman behandelt ein Thema, das sich nicht immer leicht lesen lässt. Durch die Perspektivenwechsel lernt man die Figuren immer besser kennen und leidet mit ihnen. Weniger die realen Begebenheiten, sondern vielmehr die fiktiven Handlungsstränge überraschen. Man taucht in die Umgebung ein, wandert übers Watt und hofft bis zum Schluss, dass es die Schule nicht zu arg trifft. Spätestens, wenn Moskito in Berlin die Bücherverbrennung ansehen muss, wird deutlich, wohin alles führt. Hier bekommt übrigens Erich Kästner einen kurzen Gastauftritt. Im Nachwort wird erläutert, was Realität und was Fiktion ist. Lüpkes bekam Anni Reiners Nachlass zu sehen und durfte daraus diesen lesenswerten und berührenden Roman erarbeiten. Er trägt dazu bei, dass Projekte wie die außergewöhnliche Schule am Meer mit ihrem engagierten Team nicht in Vergessenheit geraten. Er verbindet die neunjährige Historie mit Unterhaltung und mahnt, dass sich ein derartiger Teil der Geschichte nicht wiederholt.