Schönes Zeitgemälde

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singstar72 Avatar

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Verschiedentlich hatte ich Leseratten schon über dieses Buch sprechen hören. Da ich ein Fan von eher klassischen Kriminalgeschichten bin, wollte ich mir schließlich ein eigenes Bild verschaffen. Und war erstaunt bis verwundert. In der Rubrik „Krimi“ habe ich es nämlich nicht gefunden! Sondern erst in der Abteilung „Historischer Roman“. Jetzt, nach der Lektüre, kann ich allerdings bestätigen, dass dies seine Berechtigung hat. Mathematisch ausgedrückt, würde ich es so sagen: das Buch ist zu zwei Dritteln Historischer Roman, und nur etwa zu einem Drittel Krimi.

Das hat mir aber das Lesevergnügen nicht getrübt. Ich finde im Gegenteil, dass das Buch seinen ganz eigenen Reiz hatte. Wenngleich es im mittleren Verlauf ein wenig behäbig daherkam.

Sicher hätte man die Geschichte auch kürzer fassen können – Louisa, das Londoner Mädchen aus einfachsten Verhältnissen (das gemahnte teilweise schon an Dickens!), der „böse Onkel“, die wohlhabende Familie auf dem Land, ein Mord im weiteren Bekanntenkreis, und noch dazu der aufstrebende Polizist, der sich durch die Ermittlungen seiner Karriere zu versichern sucht. Es sind wahrhaft „viktorianisch“ anmutende Erzähl-Elemente, welche die Autorin eben nicht rasant verknüpft hat, sondern gemütlich auf einer Schnur aufgereiht.

Ein Krimi ist es schon allein deshalb nicht nur, weil es keine einheitliche Erzählperspektive gibt. Es gibt Kapitel sowohl aus Louisas, als auch aus Guys Sicht (der Polizist). Gelegentlich auch Einschübe von Nancy, der ältesten Mitford-Tochter. Überhaupt hat hier der Klappentext ein wenig „geschummelt“, denn das Buch handelt durchaus nicht zentral von der ältesten Mitford-Tochter. Am ehesten noch ist Louisa die zentrale Figur. Hinzu kommt, dass das Buch ebenso gut als Liebesroman gelesen werden könnte – Louisa und Guy nähern sich das ganze Buch hindurch an.

Das Zeitkolorit in den 1920ern war wirklich phantastisch getroffen! Man fuhr Eisenbahn, lud sich gegenseitig zum Tee ein, verbrachte die Sommer im Ausland. Es gab allenthalben Unruhe auf dem Arbeitsmarkt, es gab Kriegsversehrte, und nur langsam gewöhnte man sich wieder an Vergnügungen. Ich habe mich wirklich sehr (!) an die Autobiographie von Agatha Christie erinnert gefühlt, deren Jugend ja genau in dieser Zeit lag. Ich möchte beinahe wetten, dass die Autorin dieses Buch auch gelesen hat! Die Parallelen sind einfach überdeutlich. Sehr nett fand ich die kleine Anspielung auf Agatha Christie – Louisa bekommt „einen Roman von einer gewissen Agatha Christie“ als Abschiedsgeschenk. Das müsste ihr erstes Buch gewesen sein, was auch genau 1921 erschien!

Wenn ich den Schreibstil charakterisieren sollte, würde ich sagen, das Buch wird nicht erzählt, es ist wie „geplaudert“. Was ich nicht negativ meine! Nur gelegentlich ist die Übersetzung ein wenig „drollig“ und wirkt irgendwie „verrutscht“. Hier würde mich die Originalversion sehr interessieren.

Man sollte wirklich nicht mit den Erwartungen an einen klassischen Kriminalroman herangehen. Der Mord fungiert hier eher wie eine Art „Hintergrundfolie“. Erst auf den letzten 150 Seiten etwa nimmt das Buch in dieser Hinsicht noch ein wenig Fahrt auf. Vieles konnte ich mir denken – nur der allerletzte „Dreh“ war dann doch überraschend. Und als letzten Kritikpunkt würde ich anmerken, dass ein bis zwei Handlungselemente dann doch konstruiert wirkten – dass ausgerechnet beide, sowohl Louisa als auch Guy, ihre Stellen erst einmal verlieren mussten, um sie dann nach Lösung des Falles wiederzubekommen… nun ja! Und auch, dass sie sich am Schluss „in die Arme sanken“… Sagen wir, stilistisch hat die Autorin meiner Ansicht nach durchaus noch „Luft nach oben“. Ich habe das Leseerlebnis insgesamt durchaus genossen!