Ausbeutung und Widerstand

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Die „Stimme meiner Schwester“ beginnt spektakulär mit einem Unglück. Bibiana und Belonísia, Schwestern im Alter von sechs und sieben Jahren, öffnen in einem unbeobachteten Moment den alten Koffer ihrer Großmutter. Darin finden sie ein sehr schön gearbeitetes, mit einem Elfenbeingriff verziertes Messer, eingeschlagen in einen alten Lumpen. Aus einer Laune heraus nehmen sie dieses in den Mund. Sie wollen spüren wie es schmeckt und verletzten sich beide an der scharfen Klinge - Belonísia so stark, dass sie ein Stück ihrer Zunge verliert und nie mehr wird sprechen können. Die Ausgangssituation ist dramatisch und wirft so viele Fragen auf, dass ich gebannt in diese Geschichte eingestiegen bin. Handlungsort ist eine Fazenda im Nordosten Brasiliens. Dort bewirtschaften Quilombolas, die Nachfahren afrikanischer Sklaven, die während der portugiesischen Kolonialzeit ins Land verschleppt wurden, die Felder. Auch Belonísias und Bibianas Familie sind Nachkommen schwarzer Sklaven. Offiziell wurde die Sklaverei in Brasilien 1888 abgeschafft. Faktisch wurden die landlosen ehemaligen Sklaven jedoch in neue Knechtschaftsverhältnisse gezwungen. Sie bewirtschafteten in harter Knochenarbeit die Plantagen gegen das Recht, dort eine Lehmhütte zu errichten. Haltbare Steinhäuser wurden nicht gestattet, alles sollte provisorisch bleiben. Die Familien erhielten kein Geld für ihre Arbeit, mussten aber große Teile der Ernte an die Grundbesitzer abgeben, die oftmals mehr nahmen als ihnen zustand. Itamar Vieira Junior erzählt mit großer Kenntnis von den Lebensbedingungen auf den Fazendas, den religiösen Riten der afro-brasilianischen Bevölkerung, dem Glauben an Geister und Verzauberte und dem traditionellen Heilwesen.
Der Roman gliedert sich in drei Teile, die jeweils einer eigenen Erzählstimme gewidmet sind: die Perspektiven, die sich leider sprachlich überhaupt nicht voneinander unterscheiden, sind die von Bibiana, Belonísia und im dritten Teil die einer Verzauberten namens Santa Rita Pescadeira. Der Roman erzählt von fortbestehenden Knechtschaftsverhältnissen, der Gewalttätigkeit von Ehemännern, kulturellen Veränderungen - insbesondere im Bereich der traditionellen Glaubensvorstellungen - und vor allem vom aufkeimenden Widerstand gegen die erlittenen Ungerechtigkeiten moderner Sklaverei in den 1980er Jahren und davor. Es sind im Text vor allem Bibiana und ihr Ehemann sowie Belonísia, die sich auflehnen, eine Widerstandsbewegung gründen und mit großer Stärke vorangehen.
1988 wurden zwar die Landrechte der Quilombolas in der brasilianischen Verfassung verankert, allerdings scheinen diese immer noch nicht in allen Teilen Brasiliens umgesetzt zu sein. Der im Roman eine große Rolle spielende Jâre-Kult, hat sich mir nur vage erschlossen. Hier hätte ich mir ein Glossar bzw. eine Erläuterung und Einordnung im Rahmen eines Vorworts gewünscht.
Letztendlich hat mich der Erzählton bzw. der Stil des Autors nicht durchgängig erreicht. Die Erzählweise war mir zu monoton, zu nüchtern, weshalb ich das Lesen über größere Abschnitte als zäh empfunden habe. Ich empfehle das Buch aber denjenigen, die sich für die Situation und die Geschichte der Quilombolas interessieren.