Stimmen, die gehört werden müssen

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waschbaerprinzessin Avatar

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1888 schaffte Brasilien als letztes westliches Land offiziell die Sklaverei ab, die Ausbeutung der Schwarzen Bevölkerung endete damit jedoch lange noch nicht. Viele ehemalige Sklav:innen und ihre Nachkommen schufteten jahrzehntelang weiterhin Tag für Tag hart auf den Plantagen ihrer ehemaligen Herr:innen und erhielten als Lohn lediglich die Erlaubnis, auf dem Land zu leben und sich von ihm zu ernähren. So auch die beiden Protagonistinnen aus Itamar Vieira Juniors Roman "Die Stimme meiner Schwester", die mit ihrer Familie auf einer Fazenda leben.

Hinter dem farbenfroh gestalteten Cover verbirgt sich eine erschütternde Schilderung der harten Lebensumstände der Nachkommen ehemaliger Sklav:innen. Dass der Autor das Thema bereits in seiner Doktorarbeit behandelte, lässt darauf schließen, dass er sich stark an den realen Bedingungen, die Mitte des 20. Jahrhunderts auf brasilianischen Plantagen herrschten, orientiert hat. Die Arbeiter:innen in seinem Roman werden immer wieder von Dürren und Überschwemmungen heimgesucht, die ihre kräftezehrende Arbeit zunichte machen, während ihnen ein Großteil dessen, was sie anbauen, von Verwaltern und Plantagenbesitzern genommen wird. Dennoch sind die Familien dankbar für die Möglichkeit, sich ein unbeständiges Lehmhaus bauen und die Erde darum herum bewirtschaften zu dürfen. Erst die Generation der Schwestern Bibiana und Belonísia beginnt allmählich, sich gegen die Unterdrückung aufzulehnen, alte Strukturen aufzubrechen und nach Freiheit und Selbstbestimmung zu streben.

Itamar Vieira Junior zeigt dies am Beispiel zweier starker weiblicher Hauptfiguren, die zwar unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie sie leben möchten, aber durch einen tragischen Unfall in ihrer Kindheit eng miteinander verbunden sind. Bereits der Einstieg in den Roman ist schonungslos, denn der Autor beschreibt ohne Umschweife das Ereignis, bei dem eine der Schwestern ihre Zunge verliert, sodass die andere ihr im Laufe ihres Lebens ihre Stimme leihen muss. Der Roman ist in drei Abschnitte gegliedert, die aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden. Beeindruckend ist, dass es Vieira Junior trotz Ich-Perspektive gelingt, im gesamten ersten Abschnitt offen zu lassen, welche der beiden Schwestern noch über eine Zunge verfügt. Während die Erzählstimmen der beiden Schwestern in den ersten beiden Abschnitten in sich stimmig erscheinen und eine große Nähe zu den beiden Protagonistinnen entstehen lassen, wirkt die Erzählstimme des dritten Abschnitts meiner Ansicht nach weniger kohärent und durch Wechsel zwischen erster, zweiter und dritter Person sowie große Zeitsprünge distanzierter und etwas weniger flüssig als der übrige Roman.

Insgesamt umfasst die Handlung ca. 30 Jahre, in denen sich nach und nach Veränderungen auf der Fazenda bemerkbar machen. Diese betreffen zum einen das Aufbegehren der Jüngeren gegenüber den Besitzern und Verwaltern, zum anderen aber auch den Verlust alter Traditionen und Geschichten, die eine große Rolle im Roman einnehmen. Bibiana und Belonísia müssen sich nicht nur gegen die ausbeuterischen Strukturen der weißen Kolonisator:innen auflehnen, sondern auch gegen die Rolle ankämpfen, die ihre eigene Gemeinschaft für sie als Frauen vorgesehen hat, um sich eine Zukunft nach ihren Vorstellungen gestalten zu können.

"Die Stimme meiner Schwester" erzählt auf ebenso mitreißende wie poetische Weise Geschichten voller Brutalität und Grausamkeit, aber auch Geschichten des Zaubers und des Zusammenhalts, und ermöglicht einen spannenden Einblick in die harten Lebensbedingungen Schwarzer Plantagenarbeiter:innen in Brasilien Mitte des 20. Jahrhunderts.