Wessen Stimme zählt?

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
roomwithabook Avatar

Von

Bibiana und Belonísia sind Schwestern, sie lieben sich, aber sie streiten auch viel: „Belonísia und ich wurden im kürzesten Abstand zueinander geboren, und vielleicht waren wir auch deswegen diejenigen, die sich am wenigsten gut verstanden.“
Und sie sind neugierig, weswegen sie nicht widerstehen können, die Habseligkeiten ihrer Großmutter zu untersuchen, als sie für eine Weile allein zu Hause sind. Doch das Messer, das sie finden, führt zu einem Unglück: Eine der beiden schneidet sich aus Versehen die Zunge ab, sodass von da an die andere für sie sprechen muss.
Itamar Vieira Junior erzählt im Folgenden vom Erwachsenwerden der beiden Schwestern aus ihren jeweiligen Perspektiven. Wir lernen das Leben der besitzlosen Plantagenarbeiter*innen in Brasilien kennen, Nachkommen der schwarzen Sklav*innen, deren Situation sich im Laufe der Jahrhunderte nicht grundlegend verbessert hat. Zwar sind sie formal frei, doch trotzdem nach wie vor von den Launen der Großgrundbesitzer abhängig, die billige Arbeitskräfte benötigen, aber diesen keinen Lohn zahlen wollen. Die Menschen dürfen sich nur Häuser aus Lehm bauen, die in regelmäßigen Abständen erneuert werden müssen, sie leben von der Subsistenzwirtschaft auf den ihnen zugeteilten Grundstücken. Geld können sie nur verdienen, wenn sie etwas von ihrer Ernte verkaufen.
Der Vater der Mädchen, Zeca Chapéu Grande, ist der Heiler des Ortes, er führt religiöse Zeremonien durch und sorgt für den spirituellen Zusammenhalt. Die Schwestern sind Teil dieser Gemeinschaft, suchen jedoch auch jede für sich nach einem Weg, auf ihre Art glücklich zu werden.
Der Autor ist Geograph und Ethnologe mit Schwerpunkt auf afrobrasilianischer Kultur und kämpft auch jenseits der Literatur gegen Rassismus und rechte Kräfte im eigenen Land. Sein wissenschaftlicher Hintergrund zeigt sich im Roman, allerdings ist dieser weit davon entfernt, trocken oder gar langatmig zu sein. Ganz im Gegenteil, die Sprache ist poetisch und verwebt die lokale Kultur und Religion geschickt mit Themen wie Rassismus, patriarchale Strukturen und den Kampf um Gerechtigkeit. Die Sichtweisen der beiden Schwestern spiegeln ihre eigenen Wahrheiten wider, erst im dritten Teil des Romans bringt eine übergeordnete Erzählstimme einige der Begebenheiten in einen größeren Zusammenhang, der uns die Geschichte besser verstehen lässt und das Ende unwiderruflich erscheinen lässt. Ein wirklich schöner Roman, der mir einen Teil der brasilianischen Kultur näher gebracht hat, der mir bisher nicht so präsent war, und der einen genauen Blick darauf wirft, wer für wen sprechen darf und wer gehört wird.