Die Straße der Geschichtenerzähler

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Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Titel dieses Romans, der vielleicht bei manchem Neugierigen Gedanken an die „Geschichten aus 1001 Nacht“ aufkommen lässt, ist ganz und gar nicht romantisch gemeint. Die Straße der Geschichtenerzähler ist eine belebte, geschichtsträchtige Einkaufsstraße in Peschawar, in der einmal die Geschichtenerzähler saßen und auf Kundschaft warteten. Zu einer traurigen Berühmtheit gelangte die Qissa Khwani im April 1930, als an diesem Ort ein gewaltfreier Aufstand von Paschtunen gegen die britische Kolonialmacht blutig niedergeschlagen wurde.

Aber von Anfang an.
Wie ein Ring umschließt ein silberner Stirnreif die Geschichte um das Leben dreier Protagonisten. Während des Ersten Weltkriegs ist die Engländerin Vivian, von Haus aus privilegiert durch Vermögen und den Abschluss eines archäologischen Studiums, auf der Suche nach dem verschollenen Stirnreif des Skylax, von dem der antike Geschichtsschreiber Herodot in seinem Werk berichtet. Mit diesem Traum steckt sie den jungen Paschtunen Najeeb an, den sie unterrichtet und dem sie die Begeisterung für die Antike weitergibt. Najeeb, phantasiebegabt und klug, widmet sich der Archäologie und forscht weiter nach dem Reif, findet und - verliert ihn wieder. Qayyum schließlich ist Najeebs älterer Bruder. Er ist ein indischer Soldat, der im Dienst des englischen Königs in Europa im Ersten Weltkrieg gekämpft und dabei ein Auge verloren hat und nun nach Peschawar zurückgekehrt ist, hin- und hergerissen von Gefühlen des Gehorsams dem Kolonialherrn gegenüber und neuen, freiheitlichen Ideen, die Abdul Ghaffar Khan, Führer der Khudai Khidmatgar, der „Diener Gottes“, verbreitet. Den Höhepunkt des zivilen Ungehorsams, den er predigt, erleben wir schließlich auf der Straße der Geschichtenerzähler.…

Der Autorin gelingt es grandios, intensive Eindrücke von dem Leben im Peschawar des beginnenden 20. Jahrhunderts zu vermitteln. Der Leser hat gewissermaßen das Gefühl, die würzigen Aromen und die Düfte nach Rosen und reifem Obst im Bazar wahrzunehmen - aber auch den unangenehmen Geruch des Blutes, das im Krieg fließt. Das pulsierende Leben auf der Straße und im orientalischen Bazar schildert sie lebhaft und farbig - genauso eindrucksvoll aber auch die schrecklichen Ereignisse bei dem Aufstand der Paschtunen.
Der ruhige, langsame Rhythmus, in dem Shamsie ihre Erzählung beginnt, steigert sich schnell. Immer rascher dreht sich das Geschehen bis zum Höhepunkt, dem gewaltfreien Aufstand der Inder gegen ihre Kolonialmacht England.

Kamila Shamsie ist ein sehr komplexer Roman gelungen: die Schicksale fiktiver Personen verbindet sie mit historischen Ereignissen. Menschliche Lebenswege, kulturelle Unterschiede und Auseinandersetzungen, antike Geschichten und überlieferte Erzählungen: all das trifft in der Straße der Geschichtenerzähler zusammen, dem Mittelpunkt des Romans.