Brillant mit Schwächen

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Ben Lerners dritter Roman umreißt im Rückblick ein Jahr im Leben des High School-Seniorschülers Adam Gordon. Verortet ist er in den späten 90er Jahren in Topeka, einem kleinen Ort in Kansas. Die Erzählung hat drei Stränge, die zwischen der Perspektive Adams und der seiner Eltern, Jonathan und Jane, wechselt. Seine Eltern, New Yorker Psychiater, die in den Nachwehen von 9/11 auf´s Land gezogen sind, arbeiten in der „Foundation“, eine psychiatrische Einrichtung, die eine liberale Enklave in der sonst eher konservativen Stadt darstellt. Jane ist eine bekannte Autorin, deren Buch über Partnerschaft und toxische Männlichkeit sie einerseits berühmt, andererseits zur Zielscheibe „der Männer“, analogen Vorläufern der Internet-Trolle gemacht hat. Jonathans Spezialität ist die Behandlung der privilegierten „Verlorenen Jungen“, Jungen der Mittelschicht, „denen es gut ging, bis es ihnen nicht mehr gut ging.“ Daneben betreibt er ein Forschungsprojekt, das die Auflösung der Sprachfähigkeit unter Stress zum Thema hat. Adam ist ein Champion im Debattieren und steht unter beträchtlichem Druck, weil man allgemein erwartet, dass er den nächsten nationalen Wettkampf gewinnt. Und dann gibt es noch Darren Eberheart, ein Patient von Jonathan und ehemaliger Mitschüler in Adams Grundschule, ein kognitiv eingeschränkter Junge, der in einer Mischung aus Sadismus und Sentimentalität zum Prügelknaben und Maskottchen von Adams Clique wird; seine wirre Sicht leitet im Prolog den Roman ein und blitzt in kursiven Passagen durch den ganzen Text immer wieder auf.

Lerner selbst ist in Topeka aufgewachsen, ist Lyriker wie Adam einer werden will und war in seinem letzten Highschool-Jahr nationaler Debattierchampion. Seine Eltern sind Psychologen und arbeiten in Topekas Menninger Foundation. Lerners Mutter Harriet ist eine erfolgreiche Autorin von Beziehungsratgebern (von denen ich sogar einen besitze). Haben wir es hier also mit einem Fall von Autofiktion zu tun, wie bei Karl Ove Knausgård oder Joachim Meyerhoff? Zweifellos verschmilzt Lerner Biografisches und Fiktion. Er ist nicht witzig wie Meyerhoff, sondern ironisch, und dichter und schärfer als Knausgård. Wie Knausgård vollbringt er das Kunststück, das Erleben seines Personals ins Allgemeingültige zu transzendieren, kommt dafür aber mit der Hälfte an Text aus. Schon im ersten Kapitel gibt es dazu einen kleinen Vorgeschmack: Adam schleicht sich nachts in das vermeintliche Haus seiner Freundin. Erst im Bad erkennt er an den Details, dass er sich ins Nachbarhaus verirrt hat: Schöne Allegorie auf die Austauschbarkeit suburbaner Bürgerlichkeit. Die Komplexität von Lerners Erzählkonstruktion und seine ambitionierte Motivik machen es unmöglich, den Roman auf meiner üblichen einen A4-Seite zu rezensieren.

Worum geht es also darin? Es geht um Sprache als Werkzeug und Machtmittel. Werkzeug ist es zum Beispiel für Jane und Jonathan, die mit ihrer Hilfe Menschen therapieren. Am Beispiel des Rap zeigt Lerner Sprache als sozialen Klebstoff für bestimmte Gruppen, aber auch die Absurdität von rappenden weißen Mittelklasse-Teenagern, die zum Urgrund des Rap als Kunst diskriminierter schwarzer Minderheiten nicht die mindeste Verbindung haben. Am meisten frappiert hat mich die Debattierkultur, die es in den USA offenbar gibt. Diese Kultur hat eine spezielle Technik, das „Schnellsen“, entwickelt, in der man Argumente so schnell abfeuert, dass der Gegner diese unmöglich alle auffassen und ergo nicht widerlegen kann. Jedes nicht widerlegte Argument gilt jedoch als Punkt. Dabei verzerrt sich die Sprache jedoch zu einem für Nicht-Kombattanten unverständlichen akustischen Brei; um des Erfolges willen tritt Quantität an die Stelle von Qualität, der Austausch wird zu einem Niederwalzen des Gegners. Das erinnert schwer an Trumps Kommunikationsstil. Adams Debattier-Trainer steigt denn auch zum Spin Doctor in Trumps Team auf und man darf sich fragen, wieviel Realität in dieser Fiktion steckt.

Weiteres Thema ist „die Fiktion“ von Männlichkeit und deren Widersprüche, die Adam nicht wenig zu schaffen machen. Die Rolle der „Zungenfertigkeit“ ist ambivalent. Einerseits kann sprachliches Können „dafür sorgen, dass man Sex hatte“, andererseits darf ein Mann nicht zugeben, dass er seine Freundin oral verwöhnt, denn das wird als unmännlich betrachtet. Neue Männer braucht das Land? Lerner scheint einer von ihnen zu sein. Hyperreflektiert und sensibel bringt er so luzide Sichtweisen zu Genderfragen, wie ich sie aus männlicher Feder nicht für möglich gehalten habe.

Ein anderes Thema ist der Imperialismus der USA, der echten Kontakt des einzelnen Bürgers mit der Restwelt quasi unmöglich macht: „Wir konnten gehen, wohin wir wollten, doch wir konnten niemals das Bild durchdringen, das unsere Macht projizierte.“ Wie unglaublich klug beobachtet! Obama hat versucht, dieses Bild zu korrigieren; als Ergebnis wurde Trump gewählt, der versprach, es wiederherzustellen.

Noch ein Thema ist Elternschaft: Vor allem die Kapitel aus Janes Sicht richten sich an einen erwachsenen Adam, der mittlerweile Vater von zwei geliebten Töchtern ist und eine neue Weltsicht daraus gewonnen hat.

Die Auflistung dieser Themen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Dabei ist die Dichte und Brillanz von Lerners Sprache, seine komplexen Satzkonstrukte und die Vermischung oft mehrerer Bewusstseinsströme und Zeitebenen eine Herausforderung für die Leserin. „Lesbarkeit ist kein Wert für mich“, hat Lerner mal in einem Interview gesagt. Dennoch habe ich den Text gerne und flüssig gelesen, zumal er aus der Entwicklung auf die Katastrophe hin, die im Epilog vorweggenommen wird, durchaus Spannung entwickelt. Aber nicht nur das. Lerners Analysen und Schilderungen sind so plastisch und brillant, er beobachtet so scharf und feinfühlig, er kondensiert Sprache zu einem so expressiven Extrakt, dass ich immer wieder total geflasht war.

Die Auflösung des Spannungsbogens geht dann in allerschönster Sprachflut unter. An der Stelle fühlte ich mich eindeutig geschnellst. Dann ein Cut und Zeitsprung in ein arg optimistisches Ende – wie Lerner das begründet, ist mir ein Rätsel geblieben. Das schwache Ende verbietet eine Fünf-Sterne-Bewertung; empfehlenswert ist der Roman dennoch.