Lesen!!!

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mike nelson Avatar

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Es gab Momente im ersten Drittel, da hatte ich den ernsthaften Gedanken, ‚Die Topeka Schule‘ nicht zu Ende zu lesen.
Meine Zwischennotiz: „Dem wilden Themenkarussell des Autors ist nur schwer zu folgen; überintellektualisiertes Erzählen soll hinwegtäuschen über die fehlende Stringenz einer Geschichte…“
Ich war richtiggehend ärgerlich – zumal einige der in Sätze gegossenen Gedanken schlichtweg genial sind: „Wie viele von Darrens eigenen kleinen Bewegungen und Posen waren körperlich gewordene Echos der Vergangenheit, Wiederholungen knapp unterhalb seiner Bewusstseinsschwelle?“
Oder auch: „Die Erinnerung … war stellenweise verbrannt, am linken Rand schwarz.“
Und es ist genial, wie Ben Lerner inneres Erleben auf den Punkt bringt – z.B. die durch die Erfahrung einer Ablehnung veränderte Wahrnehmung eines Liebenden: „Jeder Gesprächsfetzen, den er auf der Straße zufällig hörte, sogar Musik aus vorbeifahrenden Autos, kam ihm vor wie ein Scherz auf seine Kosten.“ (Ein ‚moderner‘ Peter Handke aus dessen Anfangszeiten???)
Die Beschreibung der in einem Pflegeheim lebenden, demenzerkrankten Mutter, einer ehemaligen Krankenschwester, die der Autor bei einem Besuch der Angehörigen denken lässt „… so oder so war sie immer etwas verärgert über ihre Besuche, darüber, dass die beiden reden und reden wollten, wo sie sich doch um Patienten kümmern musste.“
Adams Verhältnis zu seinem Großvater: „… er fühlte sich verpflichtet, eine Anzahl heiterer Äußerungen an den Körper im Rollstuhl zu richten und zu demonstrieren, dass er den Kontakt mit diesem Körper nicht scheute.“
Wie das Archaische im Mann das Gefängnis des Verstandes durchbricht: „… ich bin der Vater, ich bin das archaische Medium männlicher Gewalt, das die Literatur überwinden soll, indem sie Körperlichkeit durch Sprache ersetzt.“
Ich bin froh, das Buch zu Ende gelesen zu haben! Aber – das will ich nicht verschweigen – ich musste mich richtiggehend ‚reinarbeiten‘. Und ich bin belohnt worden! Das Buch macht Lust auf ein zweites Mal – wie bei anfänglich unbeholfenem aber dann doch ungeheuer gutem Sex. Nocheinmal und nocheinmal und…
Das Themenkarussell: Männliche Identität, Rassismus, Amerika unter Trump, das Verhältnis der Generationen und der Geschlechter, Alter und Demenz, Sprache als Verführung, Wettbewerb und Therapie, ganz viel Therapie…
… und am Ende dann, da schimmert Hoffnung. Hoffnung auf eine Abkehr von der phrasendreschenden, wettbewerbsorientierten Welt, in der jeder sich selbst der nächste ist: „… Teil einer öffentlichen Rede zu sein, einer Öffentlichkeit, die mitten im allgemeinen Schnellsen (Anm.: rhetorisches Stilmittel, ein Kunstwort) langsam wieder zu reden lernte.“