Trauma am Haus am See

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Alles könnte so schön sein. Die Brüder Nils, Pierre und Benjamin verbringen ihre Sommer gemeinsam mit ihren Eltern in ihrem Sommerhaus inmitten des ländlichen Schweden-Idylls. Hier haben sie eigentlich alles, was sie brauchen: die Natur, die Freiheit und die Familie. Leider entpuppt sich dieses vermeintliche Paradies jedoch als Fassade: Vater und Mutter sind beide dem Alkohol stark zugetan und tragen ihre Ehekonflikte offen vor ihren Söhnen aus. Ihre Erziehungsmaßnahmen sind geprägt von einer großen Uneindeutigkeit; haltlos treiben Nils, Pierre und Benjamin durch ihre Kindheit und Jugend, permanent um die Aufmerksamkeit und Anerkennung ihrer Eltern – besonders ihrer Mutter – buhlend. Ganz allmählich offenbart sich das Trauma der Familie, die große Katastrophe, als die drei Brüder zwanzig Jahre danach zum Haus am See zurückkehren, um die Asche ihrer toten Mutter – ihr letzter Wunsch – dort zu verstreuen. Ein verheerender Schicksalsschlag, verdrängt und versteckt im Inneren der Familie!

„Alle ziehen sie an ihm vorbei, all die Jungen, die er gewesen ist“. (S. 153)

Der Schwede Alex Schulman hat mit „Die Überlebenden“ seinen Debütroman vorgelegt, der in der Tradition großer Familienroman einen Mikrokosmos der Introspektiven schafft. Behutsam werden die Leser*innen involviert und erhalten über kleine Episoden aus der Kindheit der drei Protagonisten einen Einblick. Nach und nach werden die Unzulänglichkeiten enthüllt: die Ungeduld der Mutter, das Wettkampf-Gen des Vaters, der seine Söhne in immer wiederkehrende Konkurrenz zueinander bringt. Ein intensives und hervorragend erzähltes Psychogramm entsteht.

Schulman beweist hohe Fertigkeiten in der Konstruktion seiner Geschichte, die lose auf der Beziehung zu seinen eigenen Brüdern basiert und auch inhaltlich autobiographische Anleihen macht. „Memento“-artig erzählt er die letzten 24 Stunden der Geschichte rückwärts und lässt diesen Strang mit den Kapiteln aus der Kindheit und Jugend, die sich chronologisch aufbauen, abwechseln. Das ist einerseits clever gemacht und hat andererseits eine große Kraft, spitzt sich doch über die zeitlichen Dimensionen die Handlung auf den Schicksalsschlag zu. Tröpfchenweise sinken Informationen und Emotionen in die Leser*innen ein, niemals zu viel, niemals zu wenig. Die Kontinuität der Langsamkeit ist beachtlich und schon beinahe virtuos.
Dabei ist die thematisch-motivische Dimension nicht weniger intensiv als die der narratologischen Konstruktion: Schulman stellt die Frage von Schuld und Vergebung, von Nähe und Fremdheit, von Annäherung und Entfremdung. Seine Figuren, allen voran Benjamin, sind mit großer Sensibilität skizziert; die Charakterentwicklung der drei Brüder in Vergangenheit und Gegenwart erfolgt stringent und zu jeder Zeit nachvollziehbar. Der „große Knall“, der am Ende alles erklärt, könnte plakativ sein, sorgt aber mit dem Moment des Unerwarteten vielmehr für eine emotionale Entladung, ein Entsetzen der Erkenntnis.
Ein starkes Debüt, das mit seinen berührenden Figuren lange nachwirkt und neugierig auf weitere Arbeiten Schulmans macht.