Die Instabilität der Zeit

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buecherfan.wit Avatar

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Mit “Die Unvollendete” (Originaltitel “Life After Life“, auf deutsch: Ein Leben nach dem anderen, weshalb der Roman auch den Titel “Life After Life After Life” haben könnte) legt Kate Atkinson ihren 9. Roman vor, der so ganz anders ist als die Vorgänger. Es geht um die Familie Todd, bestehend aus Sylvie und ihrem Ehemann Todd, den Kindern Maurice, Pamela, Ursula, Edward und Jimmy. Die gut situierte Familie lebt auf dem Land. Im Mittelpunkt steht Ursula (1910-1967), geboren am 11. Februar 1910 während eines Schneesturms. Arzt und Hebamme bleiben im Schnee stecken und das Baby stirbt bei der Geburt. Dann beginnt alles von vorn. Der Arzt trifft rechtzeitig ein und durchschneidet die um den Hals des Babys gewickelte Nabelschnur. Ursula überlebt, bis sie im Alter von vier Jahren während eines Urlaubs in Cornwall ertrinkt. In der geänderten Variante wird sie von einem Maler gerettet. Damit wird das Muster deutlich: Immer wieder stirbt Ursula und kehrt zurück, um eine alternative Möglichkeit ihres Lebenswegs zu leben. “Es wurde dunkel” oder ähnliche Formulierungen markieren den Augenblick ihres Todes. Die Autorin lässt ihre Protagonistin in dem zwei Weltkriege umspannenden Roman viele Todesarten sterben und viele verschiedene Leben durchlaufen, die manchmal ähnlich, manchmal völlig gegensätzlich sind. Immer wieder geht die Autorin zum Tag von Ursulas Geburt zurück, immer wieder auch zu entscheidenden Jahren in der europäischen Geschichte, wobei der Zweite Weltkrieg zweifellos im Mittelpunkt steht.

Die zahlreichen alternierenden Lebenswege und die Aufhebung der Chronologie verlangen dem Leser einiges an Aufmerksamkeit und Konzentration ab, aber es lohnt sich. Man merkt allerdings sehr schnell, dass der Klappentext - wie so häufig - irreführend oder sogar falsch ist. Es geht keineswegs darum, ein perfektes Leben zu führen oder ungetrübtes Glück zu erreichen, indem man bewusst die Fehler aus den anderen Leben vermeidet. Ursula hat keine konkrete Erinnerung an ihre anderen Leben. Vielmehr sagt sie im Gespräch mit ihrem Bruder Teddy, dass wir alle nur ein Leben haben und unser Bestes geben sollten. (S. 497). Ursula hat allerdings zahlreiche Déjà-vu-Erlebnisse und unbestimmte Ängste, wenn sich ein entscheidender Moment nähert. Dann handelt sie, um den Geschehnissen eine andere Richtung zu geben, und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Familie, ihr Umfeld und sogar für die ganze Welt, wenn sie als 20jährige versucht, durch ein Attentat auf Hitler die Schrecken des Krieges zu verhindern. Die Familie weiß, dass sie anders ist und schickt sie schon als Kind zum Psychiater, weil sie nicht nur die Angestellte Bridget die Treppe hinunter stößt, um schlimmeres Unglück abzuwenden, sondern sich auch oft mit seltsamen Bemerkungen über künftiges oder vergangenes Geschehen verrät.

Atkinsons Roman liest sich nicht mühelos, nicht nur wegen der beschriebenen Handlungs- und Zeitstruktur. Er ist auch sprachlich sehr anspruchsvoll, lebt von genauen historischen Kenntnissen ebenso wie von literarischen Anspielungen und Zitaten vor allem aus den Klassikern der englischen Literatur. Atkinson thematisiert das Schreiben selbst, zeigt, was Fiktion ausmacht, wenn sie die Macht eines Autors vorführt, aus einer Fülle von Möglichkeiten auszuwählen zu können und die Geschichten einen unterschiedlichen Verlauf nehmen zu lassen - im Gegensatz zum wahren Leben, wo jeder nur einen endgültigen Tod stirbt und keine Revision der Vergangenheit möglich ist. Im vorliegenden Roman wird die Zeit zu einem wichtigen Thema. Sie ist instabil (S. 553). Vergangenheit und Zukunft existieren nicht, nur das Jetzt zählt.

Die Figur der Ursula ist trotz ihres chamäleonartigen Charakters sehr sympathisch und die Beschreibung einer Großfamilie und der speziellen Geschwisterbeziehungen überaus berührend und interessant. Der Roman - nominiert für die Shortlist des 2013 Women Prize for Fiction (gewonnen hat allerdings die Amerikanerin A.M. Homes mit “May We Be Forgiven”) - ist sehr empfehlenswert, wenn man darauf verzichtet, Kriterien wie Realismus, Wahrscheinlichkeit oder Logik anzulegen und eine komplette Auflösung aller Rätsel zu erwarten.