Was wäre wenn

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marapaya Avatar

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Zugegeben, nach Klappentext und Prolog hatte ich eine recht konkrete Erwartungshaltung an die Unvollendete und eine bestimmte Vorstellung von Ursulas Gabe. Aber mit der Gabe fängt es schon mal an – Ursula ist keine Superheldin aus einem Marvelcomic, sie weiß eigentlich nicht, dass sie immer wieder neue Chancen bekommt, nachdem ihr eingeschlagener Lebensweg in die endlose Dunkelheit führte. In einer hoffnungslos verschneiten Nacht im Februar des Jahres 1910 erblickt Ursula als drittes Kind von Hugh und Sylvie das Licht der Welt und wird diesen Moment nicht nur einmal erleben. Trotz einer behüteten Kindheit in einem gut situierten englischen Landhaus lauern an jeder Ecke tödliche Gefahren auf Ursula und ihre Familie. So schleppt das Dienstmädchen Bridget unzählige Male die Spanische Grippe ein und Ursulas Versuche, dies zu verhindern, werden immer draufgängerischer, schließlich stößt die erst 8-Jährige Bridget die Treppe hinunter, um den Ausflug ins grippenverseuchte London um jeden Preis zu verhindern. Die Déjà-vus in Ursulas Leben häufen sich, alles meint sie bereits schon einmal oder ähnlich erlebt zu haben, ihre Ahnungen retten Kaninchen über den nächsten Tag, Nachbarskinder, das Dienstpersonal und sie selbst. Die Zukunft ist nicht linear und statisch, Menschen treffen Entscheidungen und diese sind keine reinen Wiederholungen, sondern variieren. Wir Leser erleben eine Vielzahl an Wendungen und unterschiedlichen Richtungen, die Ursula und andere Figuren an bestimmten Punkten einschlagen und die neue Geschichten hervorbringen. So wird der Roman eine große Antwort auf das beliebte Spiel „Was wäre, wenn“. Doch bestimmte Punkte kehren immer wieder und scheinen in jeder Variante der Zeit als fest gegeben. Ähnlich der Episode um die Spanische Grippe hält sich Ursula im 2. Weltkrieg zu einer ganz bestimmten Zeit aus den unterschiedlichsten Gründen immer an dem gleichen Ort auf, an dem eine Fliegerbombe niedergehen wird. Mal überlebt sie, oft stirbt sie an dieser Stelle.
Ursulas Lebenszeit wird vor allem durch die zwei Weltkriege stark geprägt, erlebt die Familie den 1. Weltkrieg (mit Ausnahmen) noch als vergleichsweise harmlos, so wirkt sich doch der 2. Weltkrieg auf jedes Familienmitglied und alle Lebensbereiche aus, verändert Biographien und Einstellungen, nimmt Leben und bringt besonders in London Zerstörung in nie gekanntem Ausmaß. Diese Erlebnisse im bombenverhagelten London sind gleichsam eindrucksvoll und widerwärtig zu lesen. Kate Atkinson bringt das Kriegsgrauen so plastisch zu Papier, dass man den Staub und Tod förmlich zu schmecken meint.
Mich hat dieses Buch sehr beeindruckt. Anfänglich musste ich mich erst hineinfinden in die Art der Kapitelführung und wunderte mich über die merkwürdigen Wiederholungen ganzer Seiten sowie deren zeitlicher Platzierung im Gesamttext, doch dann verstand ich das Anliegen der Autorin. Nie habe ich mir bisher so oft in einem Roman den Tod der Protagonistin gewünscht und doch so fest darauf vertraut, dass alles gut werden wird. Mir gefällt Atkinsons Idee hinter ihrer Geschichte sehr, klug verknüpft sie philosophische Theorien über die Zeit mit einem historischen Zeitgeschehen, das in seinen Grundfesten auch im fiktiven Roman unveränderbar ist. Als aufmerksamer Leser erliegt man kaum der Illusion, dass Ursula den 2. Weltkrieg verhindern könnte. Den Wunsch danach verspürt man hingegen permanent während der Lektüre. Ich werde in Zukunft noch genauer auf mein Bauchgefühl vertrauen und zuweilen die Straßenseite wechseln, falls mir meine innere Stimme dies zuflüstern sollte. Wer weiß, wie oft ich mein Leben schon bis zu diesem Punkt gelebt habe?